Gar nicht mal so viel Lärm

 

HumaNoise Congress in Wiesbaden

  

Eine Gruppe MusikerInnen betritt die Bühne, im Publikum kehrt – bis auf den obligatorischen knarzenden Stuhl oder ein vereinzeltes Hüsteln – Stille ein, auf der Bühne wird mit letzten geübten Handgriffen das Instrumentarium präpariert. Jede(r) nimmt die eigene sowohl mentale als auch physische Spielhaltung an und irgendwann ertönt der erste Ton, erklingt der erste Klang. Alle sind alle hellwach, reagieren in Echtzeit und sofort entfaltet sich im Raum Musik, improvisierte Musik.

 

von Leon Senger

Foto: Christopher Pfannebecker

Bewährtes Konzept

So trug es sich zu, als vom zweiten bis vierten Juli im RoncalliHaus die 32. Edition des HumaNoise Congress der Kooperative New Jazz stattfand. Um es mit den Worten der Veranstalter zu sagen, konnte man hier nämlich die „Entstehung eines Stücks Musik zeitgleich mit seiner Aufführung in Konzertreife“ erleben. Neben der Improvisation an sich macht seit der ersten Edition im Jahr 1986 die Faszination des langlebigen Festivals aus, dass gänzlich neue Formationen im Laufe des Wochenendes gebildet werden. Dazu lädt die Kooperative eine internationale Auswahl an MusikerInnen ein, die sich vorher in dieser Form noch nicht begegnet sind. Die meisten ImprovisatorInnen arbeiten durchaus auch in festen Ensembles, die sich aufeinander einspielen und eine eigene Klangwelt entwickeln. Ein Aufeinandertreffen, wie es der HumaNoise Congress bietet, macht aber durchaus innerhalb der über Landesgrenzen hinweg vernetzten Szene der improvisierten Musik einen besonderen Reiz aus.

Verschiedene Generationen

Eines dieser über lange Zeit eingespielten Ensembles ist das Wiesbadener Improvisations Ensemble von Saxophonist Dirk Marwedel, Kontrabassist Ulrich Phillipp und Schlagzeuger Wolfgang Schliemann. In ihrer Rolle als Gastgeber beim HumaNoise congress erfreuen auch sie sich am Spiel in unvorhersehbaren Kombinationen. In der Anfangszeit des Festivals waren sie noch die „jungen Wilden“, die in den 1980er Jahren auf die alte Garde trafen – wie beispielsweise den britischen Schlagzeuger Paul Lytton und Saxophonist Wolfgang Fuchs. 

 

Ein wenig wilder ging es damals wahrscheinlich allein schon deshalb zu, weil sich zuweilen über 20 Menschen auf der Bühne tummelten, wenn beim „tutti“ alle gemeinsam auf der Bühne des Jazzclub „ARTist“ improvisierten. Mittlerweile sind neue Generationen nachgerückt und die Zahl der MusikerIinnen wurde nach und nach auf zehn reduziert. Immer noch oder vielleicht sogar mehr denn je eint viele Improvisierende, dass sie die klanglichen Möglichkeiten ihrer Instrumente präzise untersuchen und oft durch mechanische und elektronische Erweiterungen über das Altbekannte hinaus weiterentwickeln. Zu hören waren dieses Jahr beispielsweise Robin Hayward, der eine eigene mikrotonale Tuba entwickelt hat, Miako Klein, die die feinen Nuancen ihrer Blockflöten mit geschickt platzierten Mikrofonen verstärkt, sowie Florian Zwissler mit einem auf seine Bedürfnisse abgestimmten modularen Synthesizer. 

 

Aus heutiger Sicht wohl eher zur alten Garde gehört auch der Schweizer Pianist Christoph Baumann, der schon seit Jahrzehnten an Schweizer Hochschulen Improvisation als Fach lehrt. Die Gruppe wurde außerdem komplettiert durch Frantz Loriot an der Viola und Soizic Lebrat am Violoncello – beide aus Frankreich stammend fielen sie durch ihre feinen akustischen Klänge auf, welche die Zuhörenden zum in die Tiefe Lauschen einluden.

Gar nicht mal so viel Lärm

Wer beim Titel vor allem an Krach und ungebändigte Energie denkt liegt falsch. „Noise“ begegnet einem vor allem in der Geräuschhaftigkeit, die die Musik an vielen Stellen besitzt. Im Grunde ist es aber eine sensible Musik, welche vom Zuhören der MusikerInnen untereinander, aber auch dem aufmerksamen Zuhören des Publikums lebt, eine Musik, die einen zuweilen fordert, aber nie mit Gewalt auf einen zustürmt. Unterstützt durch die transparente Raumakustik des Roncalli-Hauses ist innerhalb eines großen dynamischen Spektrums immer jede Einzelstimme zu hören, wenn auch häufig nicht mehr eindeutig zu bestimmen ist welchem Instrument die Klänge entstammen. 

 

Eine klar definierte Rollenverteilung wie im traditionellen Jazz gibt es nicht. Alle Instrumente stehen gleichberechtigt nebeneinander und die Rollen, die jeder einnimmt werden permanent neu verhandelt. Jede(r) muss Verantwortung für das Stück und seine Form übernehmen, denn vorherige Absprachen gibt es nicht. Diese Verantwortung kann im Extremfall darin bestehen, selbst gar nicht zu spielen, nur zuzuhören und den anderen auf der Bühne Raum zu lassen, abzuwarten bis man wieder etwas hinzuzufügen hat. Sie kann aber auch bedeuten neue Ideen einzubringen, um die Musik voranzutreiben. Solche deutlichen Entscheidungen führen automatisch dazu, dass auch alle anderen ihre Spielweise neu bewerten müssen. Bleiben sie musikalisch wo sie sind und nutzen den Kontrast, wird in Sekundenbruchteilen entschieden den Klangcharakter des Stückes komplett zu verändern oder führt eine lauter Einwurf sogar zur Entscheidung, das Stück zu beenden. 

 

All diese Feinheiten konnte man beim HumaNoise congress zu Genüge erleben. Durch die Besonderheiten der neu entstandenen Besetzungen trafen natürlich immer wieder unterschiedliche ästhetische Vorstellungen aufeinander. Dieser Prozess ist nicht ohne Risiko, aber genau hier liegt ein wichtiger Punkt. Es geht nicht um ein perfektes Produkt, das am Ende steht, sondern um einen Prozess. Daher ist es nur logisch, dass man am Wochenende nicht nur Konzerte, sondern auch öffentliche Proben besuchen und als Publikum am Prozess teilhaben konnte.

Ein langer Atem zahlt sich aus

Die Kooperative New Jazz, ansonsten wahrscheinlich vor allem als Veranstalter des Just Music Festivals und der Konzertreihe Panakustika bekannt, wurde bereits 1979 gegründet. Ab 1983 hatte sie unweit des RoncalliHauses einen eigenen Konzertsaal an der Friedrichstraße, der genau wie das eigene Label den Namen ARTist trug und in dem neben dem bereits erwähnten ersten HumaNoise congress häufig mehrere Konzerte in der Woche stattfanden. Bis zum letzten dieser Konzertabende im Jahr 1987 konnte man hier ein breit gefächertes Programm mit Jazz, freier Improvisation, Weltmusik, aber auch Neuer Musik und ersten Bezügen zur Performance-Art und Fluxus erleben, die nach wie vor wichtige Aspekte der Arbeit der Kooperative darstellen.

Die Mitglieder der Kooperative New Jazz in ihren neuen Räumen in der Walkmühle, Foto: Ullrich Knapp


Seitdem folgten viele verschiedene Orte und Projekte bei denen sie zu Gast oder beteiligt war. Im Laufe der Jahrzehnte gab es immer wieder Gespräche und Verhandlungen mit der Stadt Wiesbaden mit dem Ziel eine neue dauerhafte Bleibe zu finden, die jedoch allesamt scheiterten. Seit ein paar Jahren ist nun aber endlich nach langer Zeit absehbar, dass sie wieder einen eigenen Konzertraum betreiben kann. Nach langem Bemühen wurden ihr Räumlichkeiten im neu renovierten Gebäudekomplex der Walkmühle zugesichert, in denen neben einem Veranstaltungssaal auch Proberäume entstehen werden.

 

Nach jetzigem Stand wird der Ausbau des Gebäudes Anfang nächsten Jahres abgeschlossen sein und es gibt schon viele Pläne für ein großes Eröffnungsfestival, mit dem dieser neue Ort für kulturelles Leben Wiesbaden direkt etabliert und bekannt gemacht werden soll. Man kann also weiterhin vieles erwarten von einem der langlebigsten Kulturträger Wiesbadens. Genau wie die improvisierte Musik hat sie eine lange Tradition, aber ist stets im Hier und Jetzt beheimatet. Trotzdem pflegt die Musik, der die MusikerInnen sich verschrieben haben ein Nischendasein. Wahrscheinlich wird sich daran auch so schnell nicht viel ändern und manche Veranstaltungen leben auch von ihrem intimen und kleinen Rahmen. An dieser Stelle sei dennoch die These aufgestellt, dass viel mehr Menschen einen Zugang zu dieser Kunstform finden könnten als es häufig scheint. Kein Studium ist erforderlich, sondern nur ein offenes Ohr und Neugierde sowie die Bereitschaft sich ab und an der Dauerbeschallung, der man medial ausgesetzt ist, für einige Momente der Wachheit zu entziehen.