Alois Hotschnig ist der neue Stadtschreiber in Mainz

 

„Der Platz, an dem ich lese“ 

 

 

Von Andreas Berg

 

 

 

 

 

„Der Platz, an dem ich lese“, lautet der Titel eines stimmungsvollen kleinen Prosatextes, in dem der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig den Prozess des Lesens und Schreibens reflektiert und poetisch beschreibt, wie uns das Eintauchen in die Welt der Bücher verändert.

 

Ab Ende März wird er öfters lesend und schreibend in Mainz anzutreffen sein, denn der renommierte Autor ist der neue Stadtschreiber. Als 38. Träger des von ZDF, 3sat und der Stadt Mainz vergebenen Preises wird er ein Jahr lang zeitweise in der Stadtschreiberwohnung im Mainzer Gutenberg-Museum Quartier beziehen. Dotiert ist die Auszeichnung mit 12.500 Euro, und damit verbunden ist auch die Möglichkeit, gemeinsam mit dem ZDF eine Dokumentation zu produzieren.

 

Der 1959 in Berg/Drautal in Kärnten geborene Alois Hotschnig lebt heute als freier Schriftsteller in Innsbruck. Sein Werk umfasst Prosa, Lyrik, Theaterstücke und Hörspiele. Bereits mit seinem ersten, 1992 erschienen Roman „Leonardos Hände“ galt er als Shootingstar der österreichischen Literaturszene. Ein sprachartistisches Werk um das Thema Schuld und Sühne. Sein jüngster Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ greift anhand eines Frauenschicksals das Thema „Lebensborn“ auf. Erklärtes Ziel dieser von der SS getragenen Institution war es, in der NS-Zeit die Geburtenziffer arischer Kinder zu erhöhen. Lebensgeschichten, die von Krieg und Diktatur geprägt sind, tauchen im Werk des mit zahlreichen Preisen gekrönten Autors immer wieder auf. Nach eigenem Bekunden freut sich der Autor auf seinen Aufenthalt. Denn wie er in „Der Platz, an dem ich lese“ erklärt, ist es ihm „eine Lust, über Plätze zu gehen“ und sich „dort aufzuhalten und zu warten, was kommt, um zu sehen was war und was ist und was hätte gewesen sein können, um davon zu erzählen“. feuilleton gewährte er vorab schon mal ein Interview.

 

 

 

Herr Hotschnig, Sie sind gebürtiger Kärntner, wohnen in Innsbruck, haben Ihren Lebensmittelpunkt hauptsächlich in Österreich und bezüglich Ihrer Biografie und Ihres Werks keine größeren Bezugspunkte zum Mainzer Raum. Waren Sie überrascht, als Sie von Ihrer Wahl zum Mainzer Stadtschreiber 2023 erfuhren?

 

A. Hotschnig: Ich war vollkommen perplex. Am späten Abend erhielt ich einen Anruf und wollte ihn zunächst gar nicht annehmen, weil ich die angezeigte Nummer nicht kannte. Dann war ich doch neugierig und habe das Gespräch angenommen. Es war Susanne Becker aus der 3sat-Redaktion. Die Jurysitzung war wohl gerade zu Ende gegangen und sie wollte mich informieren, dass ich zum Stadtschreiber erkoren wurde. Ich muss zugeben, ich hatte von dem Amt bis dahin keine Kenntnis. Umso mehr freue ich mich jetzt über dieses unerwartete Geschenk. 

 

 

Für mich war Ihre Ernennung zum Mainzer Stadtschreiber nicht erstaunlich. Schließlich sind Sie ein preisgekrönter Autor, dem zahlreiche Ehrungen zuteilwurden. Es würde zu viel Raum einnehmen, diese hier alle aufzulisten. Aber was ist für Sie das Besondere am Amt des Mainzer Stadtschreibers, gerade im Vergleich zu den anderen Preisen, mit denen Sie bisher ausgezeichnet wurden? 

 

A. Hotschnig: Das Besondere an dem Preis ist, dass dadurch etwas Neues entstehen kann und entstehen soll. Ein Ort wird mir geschenkt und eine Zeit, eine lange Zeit, mich auf diesen Ort einzulassen und auf alles andere auch, ohne Vorgaben, ohne Einschränkungen, in wunderbarer Freiheit. So empfinde ich diesen Preis als ein Geschenk an Möglichkeiten. Möglichkeiten, die mich an einem Ort erwarten, den ich nicht kenne, der mir gänzlich neu ist. Ich habe vor, mich auf die Stadt einzulassen, mich dort einzunisten und zu schauen, welche Flügel mir dort wachsen werden, durch die Begegnungen mit Menschen, auf die ich mich freue und von denen ich einige schon im Vorfeld kennengelernt habe. Und die mir vermittelt haben, ich werde erwartet und werde willkommen geheißen. Ich habe vor, meine Augen, meine Ohren und meine Gefühle zu öffnen für alles, was mir dort begegnen wird. 

 

 

Sie haben eben erwähnt, dass Ihnen das Mainzer Stadtschreiberamt nicht geläufig war. Was wussten Sie vor dem Anruf aus der 3sat-Redaktion über die Stadt, oder wodurch ist sie Ihnen vorher aufgefallen?

 

A. Hoschnig: Mit Mainz verbinde ich zuallererst Samstagabende meiner Kindheit. An denen – nachdem gebadet wurde – der Fernseher angeschaltet wurde, der 1965 oder 1966 ins Haus kam. Da fiel das erste Mal das Wort Mainz, und natürlich gab es die Mainzelmännchen, beides ist für mich prägend gewesen. Das Fernsehen war eine erste Empfangsstation für eine Welt, die es für mich und für meine Familie in einem kleinen Bergbauerndorf bis dahin nicht gegeben hatte. Die Mainzelmännchen waren mit ihren Gags zwischen den Werbeblöcken auch die ersten Comics, denen ich begegnet bin. Natürlich verbinde ich mit Mainz auch Johannes Gutenberg, und dass ich im Gutenberghaus wohnen kann, empfinde ich als große Ehre. Der Name Gutenberg erinnert mich auch daran, dass mein letzter Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ ins Programm der Büchergilde Gutenberg aufgenommen wurde. Das hat eine ganz besondere Bedeutung für mich. Als Kind bin ich ohne Bücher aufgewachsen. Dank einer Tante, die sich meiner erbarmte, kam ich mit der „Buchgemeinschaft Donauland“ in Kontakt, bei der man einmal im Vierteljahr ein Buch aus einem Katalog aussuchen konnte. Das war wie eine zweite Geburt für mich, ein Einstieg ins lesende Leben. Dass jetzt, Jahrzehnte später, mein Roman bei der Büchergilde Gutenberg herausgekommen ist, war so etwas wie eine dritte Geburt und eine Rückerinnerung an die Anfänge meines Lesens. Weil ich damit die Überlegung verbinde, wen mein Schreiben wohl jetzt und auf diesem Weg erreichen wird, der oder die auf eine andere Art vielleicht nie von mir gehört hätte. 

 

 

Sie haben gerade Ihren letzten Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ angesprochen. In dem Buch spielt ja die Institution „Lebensborn“ eine entscheidende Rolle, ein in der Zeit des Nationalsozialismus von der SS getragener Verein. Sein erklärtes Ziel war es, die Geburtenziffer arischer Kinder zu erhöhen. In Wiesbaden, der Nachbarstadt von Mainz, gab es auch Einrichtungen des „Lebensborn“. Haben Sie vor, dort einmal auf Spurensuche zu gehen?

 

A. Hotschnig: Dass es auch in Wiesbaden Einrichtungen des „Lebensborn“ gab, ist mir neu. Da ich mich bestimmt seit vierzig Jahren mit dem Thema beschäftige, werde ich vor Ort auf Spurensuche gehen, wahrscheinlich gleich zu Beginn meiner Amtszeit.

 

 

Warum haben Sie sich – als ein nach dem Krieg in Österreich geborener Autor – so intensiv gerade mit dem Thema „Lebensborn“ auseinandergesetzt?

 

A. Hotschnig: Das Thema Nationalsozialismus hat mich bewegt, seitdem ich als Schüler das Buch „Kommandant in Auschwitz“ gelesen habe, die biografischen Aufzeichnungen von Rudolf Höß. Dass mich der „Lebensborn“ so angezogen hat, hängt vielleicht auch damit zusammen, dass es nicht nur die nationalsozialistische Variante einer Adoptionsgeschichte ist, sondern auch eine Geschichte von Absonderung, Aussortierung ‒ und dem Scheinheiligen im sogenannten Heiligen. Vordergründig hat man damals ja so getan, als sei man an diesen Kindern interessiert. Aber in Wahrheit hatte man nicht das Wohlergehen der Kinder im Blick, sondern es ging ‒ unter dem Deckmantel, etwas Gutes tun zu wollen – darum, dieser Kinder habhaft zu werden, die sonst wahrscheinlich abgetrieben worden wären, um – zumindest, was die Jungen betrifft – Soldaten für den Führer zu gewinnen. Diese Dichotomie der Scheinheiligkeit, wie ich es nenne, ist selbst noch in den Nürnberger Prozessen erkennbar, in denen der „Lebensborn“ nicht als ein NS-Verbrechen eingestuft wurde. Vielleicht, weil viele Akten zu den geraubten Kindern noch nicht vorlagen.

 

 

Sie gelten als ein Autor, der sich den Themen Schuld und Sühne und den politischen und gesellschaftlichen Realitäten der Geschichte, aber auch der Gegenwart stellt. Glauben Sie, dass Literatur zu einer positiven Veränderung unseres Menschseins beitragen kann?

 

A. Hotschnig: Daran glaube ich nicht nur, dessen bin ich mir ganz gewiss. In diesem Zusammenhang bin ich mir selbst mein eigener Zeuge. In meiner Kindheit, einer Kindheit in den 60er Jahren, wurde über die Zeit und die Schrecken des Nationalsozialismus nicht gesprochen. Es war ein einziges Schweigen, das auch ein sehr beredtes Schweigen gewesen ist. 

Als Kind habe ich immer wieder bemerkt, wenn ich den Erwachsenen zuhörte, dass ihre Gespräche bei dem Thema abrupt abbrachen, für mich ohne erkennbaren Grund. Was auch mein Interesse an der Sprache geweckt hat. Denn an diesen Abbrüchen der Erzählungen, die ja die Erzählungen eines Lebens waren, hat mein eigenes Schreibdenken begonnen. Ich habe dann jeweils versucht, mir einen möglichen Fortgang oder ein Ende für die abgebrochene Geschichte auszudenken. Auf diese Weise hat mein eigenes Schreiben begonnen, denke ich. Auf jeden Fall hat dieses Schweigen meine Fantasie angeregt. 

Und zur positiven Veränderung durch Literatur: meine ersten Bezugs-Menschen, die mir Antworten zum Thema Nationalsozialismus und auf meine Fragen überhaupt gegeben haben, sind Bücher gewesen. Eines der ersten, die mich wach gemacht haben, war die schon erwähnte Autobiografie von Rudolf Höß. Hier erfuhr ich eine „Wahrheit“, die mir verschwiegen worden war. Allerdings: Ein Täter hat mir all das erzählt, worauf ich mit meinen Fragen in der Schule oder im Familienkreis keine Antwort bekommen habe. Die Bücher sind es tatsächlich gewesen, die mich gerettet haben. 

 

 

Kommen wir abschließend noch einmal auf Ihr Amt als Mainzer Stadtschreiber zurück. Haben Sie schon konkrete Pläne für die Zeit, was Ihre Aktivitäten in der Stadt betrifft, oder gibt es schon eine Idee für den Film, den Sie bei 3sat als Stadtschreiber realisieren dürfen?

 

A. Hotschnig: Ich habe nicht vor, mit schon bestehenden Textbausteinen nach Mainz zu reisen, um damit vor Ort neue Häuschen zu bauen, und habe auch noch keine konkreten Projekte geplant. Sondern ich will meine Antennen und Fühler ausstrecken, möchte offen auf Menschen zugehen und mich durch die Begegnungen befruchten, oder ‒ wie Blumen ‒ bestäuben lassen. Die Begegnungen mit Menschen und ihren Geschichten werden die Blumenzwiebeln sein, die in meinem Schreiben aufgehen, und es ist schön, noch nicht zu wissen, wann und in welcher Form das der Fall sein wird. Was den Film betrifft, empfinde ich eine große Vor-Freude. Immer wieder einmal gab es Angebote für Verfilmungen meiner Romane, aus denen dann aber aus dem einen oder anderen Grund nichts geworden ist. Ein innerer Film ist mir während des Schreibens immer im Kopf. Und so ist das Angebot, nun tatsächlich einen Film gestalten zu dürfen, eine anregende Vorstellung. Die Geschichte dafür wird sich finden. Und auch hier will ich offen sein, meine Antennen ausrichten und sehen, was auf mich zukommt.