© Murnau-Stifung
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Analoge Filme in die Zukunft retten

 

Heute besteht eine der wichtigsten Aufgaben der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in der Konservierung, Digitalisierung und Restaurierung ihres mehrere tausend Titel umfassenden Filmbestands. Viele Filme aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind verschollen oder endgültig verloren. Die heute noch erhaltenen sind in der Regel auf 35mm-Filmmaterial überliefert. Analoger Film, egal ob aus hochbrennbarer Nitrozellulose oder Azetat, dem sogenannten Sicherheitsfilm, ist einem chemischen Zersetzungsprozess ausgeliefert. Durch die Lagerung unter idealen Bedingungen lässt sich dieser Prozess maßgeblich verlangsamen, nie aber ganz aufhalten. 

 

Um historische Filme in Zeiten digitaler Vorführtechnik sichtbar zu machen, ist es unumgänglich sie zu digitalisieren – ein aufwendiger und teurer Prozess, der viel filmhistorisches und -technisches Wissen voraussetzt. Seit 2010 arbeitet die Murnau-Stiftung unermüdlich an der Digitalisierung, und im Fall fragmentarisch überlieferter Titel an der digitalen Restaurierung, ihrer Schätze. Über 180 Titel konnten seitdem in das digitale Zeitalter überführt werden. Unterstützt wird die Stiftung dabei durch ein gemeinsames Förderprogramm von Bund, Ländern und der Filmförderungsanstalt.

 

Ernst Lubitschs Opernadaption CARMEN

 

Eines der umfangreichsten digitalen Restaurierungsprojekte der letzten Jahre ist der Stummfilm CARMEN, 1918 vom späteren Hollywood-Starregisseur Ernst Lubitsch gedreht. Don José wurde vom beliebten Schauspieler Harry Liedtke gespielt, Carmen von der jungen Pola Negri, kurz vor ihrem großen Sprung nach Hollywood. 100 Jahre später sind von CARMEN lediglich Fragmente zeitgenössischer 35mm-Kopien und -Duplikate überliefert. Das Originalnegativ, das damals in der Kamera belichtet wurde, gilt heute als verschollen. Dass überhaupt Elemente von Filmen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erhalten sind, ist immer eine große Sensation.

 

Die Uraufführung des Films fand am 20. Dezember 1918 im Union Theater am Kurfürstendamm in Berlin statt. Einige Wochen zuvor, am 8. November 1918, waren Presse- und Ufa-Führungskräfte zu einer exklusiven Vorpremiere des Films geladen, als Lubitsch sich noch mit dem endgültigen Filmschnitt beschäftigte. Pola Negri erzählte später, dass die Novemberrevolution an jenem Abend in den Straßen Berlins tobte, und das entfernte Geräusch des Gewehrfeuers den Film fortwährend untermalte. Am Tag danach wurde die Weimarer Republik ausgerufen.

 

Nach der Auswertung des Films in Deutschland dauerte es zwei Jahre, bis der Film in die USA kam, wo er 1921 unter den Titel GYSPSY BLOOD nach massiven Überarbeitungen veröffentlicht wurde. In den USA wurde das Kameranegativ stark manipuliert, ganze Handlungsstränge entfernt, die Schnittreihenfolge verändert und Einstellungen und Zwischentitel gekürzt.

 

Ernst Lubitsch und Drehbuchautor Hanns Kräly erzählten in ihrer ursprünglichen Fassung des Films von einer Carmen, deren Treibstoff nicht die Sehnsucht nach Liebe ist, so wie sie man sie aus Bizets Oper kennt, sondern die Faszination an der Zerstörung von allem, was Ordnung und Gewöhnlichkeit verkörpert. Pola Negris Antiheldin ist von dem so asozialen wie zugleich verlockenden Wunsch bewegt, die Regeln zu umgehen und Mitmenschen zu demütigen. Carmen, eine Frau mit wildem Willen, kommandiert eine ganze Gruppe von Räubern herum, verführt einen Gefängniswärter und bringt das bürgerliche Leben eines einfachen Mannes durcheinander, bis es hoffnungslos zerstört ist. Don José gerät in eine Todesspirale, bevor er überhaupt auf die Idee kommt, dass seine Verliebtheit sein Todesurteil sein wird. 

 

Vielleicht liegt der Grund von CARMENS Erfolg in Deutschland darin, dass der Film einem vom Ersten Weltkrieg erschöpften und durch die gesellschaftlichen Veränderungen erschütterten Publikum anbot, die Lust am Verbotenen auf der großen Leinwand zu erleben, mit der die harten Jahre der zur Gewohnheit gewordenen Todesgefahr für knapp 90 Minuten aufgehoben, und sogar besiegt werden konnten.

Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Filmen, die oft mit zwei nebeneinander platzierten Kameras gedreht wurden, wurde CARMEN nur mit einer fotografiert. Der Schnitt für die amerikanische Veröffentlichung wurde daher direkt im Negativ der deutschen Fassung vorgenommen. Dies führte dazu, dass das aus dem Originalnegativ entfernte Material heute als irreversibel verloren gilt.

 

Nach der amerikanischen Auswertung erlebte der Film schließlich 1923 eine Wiederaufführung in Deutschland und nach dem Zweiten Weltkrieg die sowjetische Beschlagnahmung.

 

In der Nachkriegszeit gab es diverse Bemühungen einer Rekonstruktion der Uraufführungsfassung von CARMEN. Dasselbe Bestreben verfolgte die Murnau-Stiftung 2018, als der Film erstmals digital restauriert wurde. Acht verschiedene Elemente wurden betrachtet, abgemessen, miteinander verglichen. Für jedes Filmmaterial wurde die Länge jeder einzelnen der circa 660 Einstellungen gemessen, um festzustellen, wie viele Bilder in welchem Material fehlen. Zwei s/w-Elemente, die erst später in der Sowjetunion hergestellt wurden, dienten als Quelle für den Scan in hoher 4K-Auflösung und wurden digital zu einer weitgehend vollständigen Fassung kombiniert. Gravierende altersbedingte Schäden wurden digital retuschiert. Mehrere Fragmente viragierter Vorführkopien aus der Herstellungszeit des Films, dienten als Referenz für die Einfärbung des Digitalisats. Fehlende Zwischentitel wurden digital rekonstruiert – dafür dienten handschriftlichen Notizen im sowjetischen Duplikat als wertvolle Vorlage. 

 

Das Feuer von CARMEN ist in der digitalen Restaurierung wieder sichtbar geworden: eine vorzügliche Besetzung und die wohldurchdachte Eleganz von Pola Negris Schauspielkunst, komplexe Bauten, die die Studio-Dimension der Tempelhofer Ateliers vergessen lassen und moderne, neorealistische Ausblicke eröffnen; vor allem die ersten Spuren Lubitschs Genies, die Unkonventionalität seiner Narrationen, seine Kunst in der Mischung unterschiedlicher Genres, die subtil spottende Kritik gegenüber dem Bürgertum, gegenüber den Ängstlichen, die sich unentschlossen von anderen manipulieren lassen. Erste Flammen des Lubitsch -Touch.

 

Gefördert wurde die Digitalisierung vom Bundesministerium für Kultur und Medien, dem Medienhaus Bertelsmann und dem Förderverein der Murnau-Stiftung, Freunde und Förderer des deutschen Filmerbes e.V..

 

Gekürzte Fassung eines Artikels von Luciano Palumbo, ergänzt von Anne Siegmayer, Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung.

 

www.murnau-stiftung.de