Das Junge Staatsmusical

Eine Erfolgsgeschichte

Seit mehr als 20 Jahren leitet die Regisseurin und Choreografin Iris Limbarth das Junge Staatsmusical. Jedes Jahr bringt sie mit dem Laienensemble zwei Produktionen am Hessischen Staatstheater Wiesbaden heraus. Im Laufe der Jahre hat sich die Truppe als wahre Talentschmiede erwiesen. Im November steht die 55. Produktion ins Haus. Ein Grund mehr, hinter die Kulissen zu blicken.

 

Von Shirin Sojitrawalla

 

 

Hier beginnen Karrieren. Die Rede ist vom Jungen Staatsmusical am Wiesbadener Theater, früher bekannt als Jugend-Club-Theater. In der Spielzeit 1987/1988 unter dem Intendanten Claus Leininger gegründet, ist es zur Institution innerhalb einer Institution gereift. Zuerst leitete Frank Schuster die Truppe, schon 1991 übernahm Reinhard Friese, derzeit Intendant am Städtebundtheater Hof, das Ruder. Fast zehn Jahre prägte er das Gesicht des Jugend-Clubs. Im Jahr 2000 übergab er den Staffelstab dann an Iris Limbarth, die das Junge Staatsmusical bis heute leitet. Im November kommt unter ihrer Regie und Choreografie eines der besten Musicals überhaupt heraus: „Chicago“ von Fred Ebb und Bob Fosse mit der Musik von John Kander. Es ist ein Dauerbrenner in der Sparte Musical und spielt unter Vaudeville-Tänzerinnen im Chicago der 20er Jahre. 31 Millionen Menschen in 36 Ländern hat es bislang schon begeistert. In New York steht es seit 22 Jahren, in London seit 15 Jahren auf dem Spielplan. 1975 wurde es uraufgeführt, 2001 mit Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones und Richard Gere in den Hauptrollen verfilmt.

 

Auch im Wiesbadener Jugendclub stand es schon einmal auf dem Programm: 1995, im Kleinen Haus. Damals spielte Iris Limbarth die tragende Rolle der Roxy Hart und war auch für die Choreografie zuständig. Lang ist‘s her. Die Premiere im November wird ihre 43. Produktion mit dem Jungen Staatsmusical sein. Eine Erfolgsgeschichte. Während anderswo gerade das böse Wort vom Publikumsschwund umhergeht, zieht die so genannte leichte Muse fast immer Leute. Iris Limbarth wundert das nicht: „Das Genre Musical eignet sich bestens dazu, auch Nichttheatergänger abzuholen, weil es ein bisschen wie ein Film ist“, sagt sie in einem Interview im Theater- Magazin. Sie selbst liebe dieses Genre, weil man die Menschen so gut damit erreichen könne. Diese Faszination scheint der Nachwuchs zu teilen, denn seit seiner Gründung ist der Zustrom an neuen Talenten ungebrochen. Wo auch sonst bekommen Laien die Chance, unter professionellen Bedingungen zu proben und aufzutreten?

 

 

Jedes Jahr findet ein Casting statt, in dem Bewerberinnen und Bewerber zeigen müssen, ob und wie sie tanzen, spielen und singen. Im Schnitt bewerben sich 50 bis 60, meist Schüler:innen und Studierende, immer mehr Mädchen als Jungen. Zirka acht bis zehn werden aufgenommen. Im Laufe der Jahre hat sich das Junge Staatsmusical zur erstaunlichen Talentschmiede entwickelt. Nicht wenige suchen später ihren Beruf im Theater, studieren Schauspiel oder Musical. So hat auch die Schauspielerin Jasna Fritzi Bauer einst hier ihre ersten Bühnenschritte gemacht. Dasselbe gilt für Nathalie Schott oder Britta Hammelstein, letztere zu sehen in großen Filmproduktionen („Der Baader Meinhof Komplex“), aber auch auf der Bühne präsent, etwa in Inszenierungen von Regiegrößen wie Frank Castorf. Andere wie Jörg Neubauer sind dem Musicalfach treu geblieben. Doch egal, was sie heute machen, geprägt hat sie die Erfahrung Junges Staatsmusical auf die eine oder andere Weise alle.

 

Inzwischen inszeniert Iris Limbarth längst nicht mehr nur in Wiesbaden, sondern pendelt zwischen verschiedenen Städten hin und her, bringt etwa Musicals in Meppen, – wo sie seit Kurzem als ehrenamtliche Intendantin der Freilichtbühne fungiert –, oder in Bremerhaven zum Laufen. Am Wiesbadener Theater ist sie mittlerweile unter dem fünften Intendanten tätig (Claus Leininger, Arnold Petersen, Achim Thorwald, Manfred Beilharz und Uwe Eric Laufenberg). Iris Limbarth kennt das Haus länger und besser als die meisten, die sich darin aufhalten.

 

In Niedernhausen aufgewachsen, hat sie schon ihre Tanzausbildung in Wiesbaden absolviert, nach Auftritten im Weihnachtsmärchen, stand sie in der zweiten Jugendclub-Produktion „Lysistrate“ selbst auf der Bühne und besorgte 1994 für „Grease“ ihre erste Choreografie. Zeitgleich be- gann sie ihr Erstengagement als Tänzerin am Theater Stralsund, das sie nach einem Bandscheibenvorfall beendete. Seitdem ist die Nachwuchsförderung ihr Steckenpferd. „Mit jungen Leuten neue Wege zu entdecken, macht mir am meisten Spaß“, erzählt sie. Das gilt selbst noch in pandemischen Zeiten, in denen Umbesetzungen, Neuplanungen und Vorstellungsausfälle an der Tagesordnung sind. Für „Chicago“ probt das Junge Staatsmusical schon lange vor den Sommerferien. Meist finden die Proben an den Wochenenden statt, im Ballettsaal des Theaters. Ein großer Raum mit verspiegelten Wänden, Tanzboden und Ballettstangen. Die Atmosphäre ist gelöst. Immer wieder geht das Ensemble die gleichen Szenen durch, mal eine Spielszene, dann eine Gesangs- und Tanzeinlage. Iris Limbarth sitzt vor einem Notenständer mit Textbuch vor der Nase, konzentriert, zugewandt, aufmerksam. Zuweilen springt sie auf, spielt und tanzt vor. In den Pausen verteilt sie Feedback. Es ist ihr anzusehen, dass sie das gern macht. Für Außenstehende braucht es viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie aus all dem Ungeordneten später ein schmissiger Abend werden soll. Requisiten gibt es bislang so gut wie keine, alle pulsieren im luftleeren Raum. Doch sobald die Musik einsetzt, knistert die Luft.„Mister Zellophan“, einer der Hits aus„Chicago“ erklingt vom Band, und nicht nur die Regisseurin beginnt mit den Fingern den Takt zu schnicken.

 

Foto: Lenaobst
Foto: Lenaobst

Für die Uraufführung des Musicals „Superhero“ wurde Iris Limbarth 2015 in den Sparten Beste Regie und Beste Choreografie für den „Deutschen Musical Preis“ nominiert, für ihren herausragenden Einsatz für die Menschen der Stadt und ihre Arbeit mit dem Jungen Staatsmusical 2019 mit der Wiesbadener Lilie geehrt. Auch andernorts hat sie mit Jugendlichen gearbeitet, etwa am Pfalzbau in Ludwigshafen, wo seit 2015 der ehemalige Wiesbadener Hausregisseur Tilman Gersch Intendant ist. In den mehr als 30 Jahren, in denen Limbarth nun schon mit Jugendlichen arbeitet ,hat sich naturgemäß viel geändert. In den Anfängen gab es weder Handys, Gendersternchen noch eine Me- too-Debatte. Die Millennials indes sind Digital Natives. Es ist eine als besonders empfindlich verschriene Generation, Stichwort Schneeflocke. Auch Iris Limbarth merkt die Veränderung, die neue Generation sei selbstbewusster im Auftreten und nicht mehr bereit, alles hinzunehmen. Die neue Wachsamkeitsbewegung (Wokeness) mache auch vor ihrer Truppe nicht halt. Rassismus und Sexismus würden heute oft und ganz selbstverständlich thematisiert. Was früher nur ein Gag war, gelte heute schnell als frauenfeindlich. Was inzwischen indes zu keinen großen Diskussionen mehr führt, ist die Fokussierung auf Musicals, mittlerweile ja auch fester Bestandteil im Namen des Laien-Ensembles. In den Anfangsjahren war das durchaus noch Gesprächsstoff. Denn nur einmal ist man von der Linie abgewichen und brachte „Totenfloß“, ein Schauspiel von Harald Mueller in der Wartburg heraus. Seitdem aber stehen die Zeichen auf Musical. Alle großen Hits standen schon auf dem Spiel- plan: „Hair“, „Rent“, Anything goes“, „Linie 1“ und und und ...

 

„Chicago“ ist die 55. Produktion. Ein Grund zum Feiern. In der nächsten Spielzeit steht außerdem noch„Sister Act“ auf dem Programm, das im März 2023 in der Wartburg aufgeführt wird. Die Spielplangestaltung ist dabei gar nicht so einfach, wie Limbarth erläutert. Da das Junge Staatsmusical eine Laiengruppe ist, sei es oftmals schwierig, überhaupt die Rechte zu bekommen, so etwa im Fall von„Chicago“. Oft seien bestimmte Musicals regelrecht für Laien gesperrt, oder es gebe rigide Vorgaben. Manchmal dürfe es etwa im Umkreis von so und soviel Kilometern nirgends sonst auf dem Spielplan stehen, sei die Reihenfolge der Musiktitel haarklein vorgegeben und so fort. Apropos Musik, auch die Band ist mit dem Jungen Staatsmusical gemeinsam alt geworden. Seit vielen Jahren spielen die selben professionellen Musiker (nur Männer) dort. Ab den Endproben sorgen sie für den Live-Soundtrack. Diesmal darf man sich auf so swingende Evergreens wie„All that Jazz“ oder „Cell Block Tango“ freuen.

 

Premiere „Chicago“ am 26.11. 2022 im Hessischen Staatstheater Wiesbaden, Kleines Haus, Christian-Zais-Straße 3, 65189 Wiesbaden www.staatstheater-wiesbaden.de