© Plattform zur Entwicklung von neo-klassischem und modernem Ballett e. V.
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Dieser eine entscheidende Zentimeter


 

Die Mainzer Delattre Dance Company – eine ungewöhnliche Erfolgsgeschichte



 

Von Isabelle von Neumann-Cosel

 

 

 

 

 

 

Keine Frage: Polina Semionova ist die berühmteste Ballerina dieses Landes. Allein ihr Auftritt im Musikvideo von Herbert Grönemeyers „Demo (Letzter Tag)“ bescherte ihr ein vielfaches digitales Millionenpublikum. Seitdem hat sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen gesammelt, zuletzt den einer Kammertänzerin des Berliner Staatsballetts. Die Liste ihrer Gastauftritte umfasst alle großen Häuser der internationalen Ballettwelt: vom Bolschoi-Theater bis zur Mailänder Scala, vom American Dance Theatre bis zu den großen klassischen Kompanien hierzulande. Ihre Gastspiele in Wien oder Zürich, München, Dresden oder Stuttgart sind zwar jeweils ein Ereignis, aber keine große Überraschung - ein Auftritt in Mainz dagegen schon. Wenn Polina Semionova zusammen mit ihrem Bruder Dmitry Semionov, einem ebenfalls international gastierenden Solotänzer, auf der Bühne des Mainzer Staatstheaters in einer Uraufführung tanzt, ist das für Ballettfreunde eine kleine Sensation. Noch dazu, wenn ein Ex-Tänzer der Mainzer Kompanie den beiden Geschwistern die entsprechende Choreografie auf die beweglichen Füße geschneidert hat … Die Rede ist von einer Gala der Mainzer Delattre Dance Company im Staatstheater anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens im vorigen Jahr. Die Uraufführung des Duetts „Face my fears“, choreografiert von Stéphen Delattre, war einer der Höhepunkte des an attraktiven Programmpunkten übervollen Galaabends. Diese emotionsgeladenen sechs Minuten machten eindeutig klar, in welcher Liga die in Mainz ansässige neoklassische Company inzwischen spielt: ganz oben. Das Erreichen einer solchen Spitzenposition in der Tanzlandschaft war alles andere als sicher, als der ehemalige Solist des Mainzer Ensembles vor zehn Jahren den Sprung in die Selbstständigkeit wagte. Der abenteuerliche Weg hin zu diesem Erfolg verlief alles andere als geradlinig.

 

Ein einziger Zentimeter kann einen Unterschied ums Ganze machen. Das musste der aus Südfrankreich stammende junge Ballett-Tänzer Stéphen Delattre schmerzhaft erkennen, als er ein Engagement in einer klassischen Ballettkompanie suchte. Eigentlich besaß er das rare nötige Talent und hatte obendrein alles richtig gemacht: eine professionelle Ausbildung in einem Ballettinternat in Marseille, getrennt von der Familie, mit sehr viel Anstrengung und Disziplin. Aber ohne Entbehrungen wird man kein zukünftiger Prinz im klassischen „Dornröschen“, nicht einmal ein junger Ensembletänzer in einer großen Kompanie.

 

Allerdings haben die allermeisten großen Kompanien vor das Engagement die Messlatte aufgestellt, und wer daran scheitert, wird gar nicht erst zum Vortanzen eingeladen. Mit einer Größe – in diesem Fall eben eher einer Nicht-Größe – von 169 Zentimetern war der junge Tänzer genau einen entscheidenden Zentimeter zu klein. Aus der Traum vom „Danseur Noble“, aus der Traum von der in Griffweite befindlichen Karriere – denn abgesehen vom Gardemaß hatte der junge Tänzer eigentlich alles, was es für eine erfolgreiche Bühnenlaufbahn braucht: neben klassischer Technik auf hohem Niveau eine große physische Präsenz mit ausgesprochener Athletik, sowie Charme und Ausstrahlung als Zugabe.

 

Man kann sich vorstellen, dass da erst einmal eine Welt zusammenbrach – bis sich eine neue öffnete. Mit dem Blick auf andere Formen des Tanzes wurde die Tanzwelt für den jungen Franzosen plötzlich größer statt kleiner, und die Begegnung mit neuen Formen von zeitgenössischem Ballett und Tanz ließ die Frage der Körpergröße völlig in den Hintergrund treten. Im Gegenteil: In Kompanien, die ein Cross-over der Stile pflegen, sind Tänzer und Tänzerinnen gefragt, die gerade nicht dem Durchschnitt entsprechen.

 

So erschloss sich nicht nur eine beachtliche Bühnenlaufbahn für den jungen Tänzer, sondern vielmehr eine neue Welt. Plötzlich konnte er einen grenzenlosen Bewegungsspielraum entdecken, der es ihm erlaubte, seine eigene ganz persönliche Ausdrucksweise zu finden. Und genau das war es, was Stéphen Delattre faszinierte: große Emotionen im Tanz auszudrücken. Parallel zu seinen tänzerischen Engagements begann er zu choreografieren und heimste auch bald erste Erfolge bei Wettbewerben ein. Von da an wurde die Umsetzung eigener Choreografien sein Lebenstraum.

 

Der legendäre Martin Schläpfer engagierte den Tänzer nach Mainz, wo Delattre das sogenannte Mainzer Ballettwunder miterlebte oder besser mitgestaltete. Doch Schläpfers Weggang wurde zum Wendepunkt in seiner künstlerischen Entwicklung. Pascal Touzeau, der neue Ballettchef in der Domstadt, hatte vorher zum harten Kern der legendären Truppe von William Forsythe in Frankfurt gehört; das mag seinen Karrieresprung beflügelt haben. Aber Schläpfers Fußstapfen erwiesen sich als zu groß. Touzeaus eigene Kreationen blieben blass, aber auch dem aufstrebenden Mitglied seiner Company wollte er keinen Platz für dessen Kreationen auf der Bühne bieten. Unzufrieden mit seiner künstlerischen Situation wagte Delattre Hals über Kopf den entscheidenden Sprung in die Selbstständigkeit – weg vom festen Engagement und tarifgeregelten Einkommen, weg von geregelten Trainings- und sicheren Auftrittsmöglichkeiten.

 

So eine Entscheidung kann ins Auge gehen. Plötzlich ohne alles dazustehen, ist eine Extremsituation: ohne Geld, um Tänzer anzuheuern und Produktionen zu finanzieren, ohne Probenraum und professionelle Spielstätte, vor allem aber ohne Durchblick durch den Dschungel von regionalen und überregionalen Fördermöglichkeiten für den Tanz. Aber Stéphen Delattre hatte Glück, zunächst einmal in der Begegnung mit Martin Opelt, der ihm seitdem als Partner mit Rat und Tat (in Sachen Tanzförderung und Organisation) zur Seite steht. Tatsächlich schaffte es Delattre erstaunlich schnell, eine eigene feste Truppe auf die Beine zu stellen. Damit ist er eine erstaunliche Ausnahme in der freien Szene, wo sich die allermeisten Protagonisten von Fördertopf zu Fördertopf hangeln müssen, immer auf der Suche nach Auftrittsmöglichkeiten.

 Die junge Delattre Dance Company schaffte ganz schnell den Sprung in die Königsklasse der freien Szene: ein festes Engagement an einem Haus, nämlich den Mainzer Kammerspielen. Hier erarbeitete sich Delattre ein Jahr für Jahr anwachsendes Repertoire, und was noch viel wichtiger ist: die Gunst des Publikums. Von Anfang an setzte er auf spannende Geschichten, große Themen, starke Emotionen und perfekte Theatralik. Musik, Bühnenbild, Licht, Kostüme – das alles hat bei der Delattre Company inzwischen musicalmäßige Perfektion und wird meist vom Chef selbst kreiert. Verbunden mit einer äußerst athletischen Tanzsprache, die das Tanzvokabular des klassischen Balletts mit Neoklassik, Modern Dance und den unbegrenzten Möglichkeiten des Ausdruckstanzes verbindet, erarbeitete sich Stéphen Delattre so seine ganz eigene Handschrift. Ballett bleibt dabei die beherrschende Grundlage, auch wenn die Spitzenschuhe seiner phänomenalen sechs Tänzerinnen schon mal unter Socken versteckt werden. Auch die sechs Herren der Company haben allesamt solistische Qualitäten.

 

Delattre hat den Mut zu ganz großen Gefühlen und das Talent, Ausnahmetänzer*innen zum Strahlen zu bringen. Egal, ob er Geschichten erzählt oder sich abstrakten Themen widmet – das Publikum wird förmlich mit hineingerissen in den Strudel des tänzerischen Geschehens, immer auf der Spur starker Emotionen. Bei seinem Erfolg in der Domstadt kommt ihm sicherlich zugute, dass sich das hauseigene Staatstheater-Ensemble „tanzmainz“ längst unterschiedlichsten Facetten des zeitgenössischen Tanzes verschrieben hat, in denen das akademische Tanzvokabular höchstens noch aus der Ferne winkt. Bei den regelmäßigen Gastspielen im Frankfurter Gallustheater profitiert das Ensemble davon, dass es dort am städtischen Theater weder ein Ballett, noch überhaupt eine Tanzsparte gibt.

 



Zehn Jahre und zwanzig abendfüllende Produktionen später – von „Momo“ über „Der Glöckner von Notre-Dame“ bis zu „Shakespeare in Motion“ oder „Shelter“ – konnte die Delattre Company ihr Jubiläum mit einer großen Gala im Staatstheater feiern. Die Gästeliste war mehr als beeindruckend: Sie las sich ein wenig wie das Who is Who der deutschen Ballettszene. Wenn man den Begeisterungsstürmen im ausverkauften Opernhaus glauben darf, ist Ballettpublikum in der Region reichlich vorhanden. Und für die finanzielle Zukunft der Truppe ist von politischer Seite gesorgt: Die Fördermittel für die nächste Zukunft sind gesichert. „Frankenstein“ – das erste neue Stück dieses Jahres – kann kommen!

 

www.delattredance.com