Für die einen ist es der Ausdruck eines Lebensstils und eine Kunstform, für die anderen ein Ärgernis und Sachbeschädigung. Was Graffiti kann, zeigt das alljährlich im Sommer stattfindende Festival „Meeting of Styles“ in Mainz-Kastel. Gestartet in den 1990er Jahren ist das Graffiti- und Street-Art-Festival längst legendär und lockt Künstler*innen aus der ganzen Welt in die hessische Landeshauptstadt. Und nicht nur das: Inzwischen gibt es das „Meeting of Styles“ in 40 Ländern auf allen Kontinenten. Von Wiesbaden in die Welt!
Von Jessica Euler
Wenn man das Wort „Graffiti“ hört, denkt man an knallige Farben, plakative Motive und übergroße Schriftzüge. Extravagante Verformungen erregen unsere Aufmerksamkeit, wobei ein Graffiti bunter, gewaltiger und fantasievoller als das andere ist. Gleichzeitig fallen Begriffe wie Schmiererei und Sachbeschädigung, welche die negativen Facetten der Graffiti-Szene beleuchten. Stereotype von nachtaktiven Gestalten mit Kapuze und Gesichtsbedeckung, die bewaffnet mit Spraydosen illegal Wände und Züge besprühen, dominieren in der allgemeinen Wahrnehmungen. Und dennoch sind bekannte Street-Art-Künstler wie Nägeli, Banksy und Keith Haring die besten Beispiele, wie Graffiti auf den Straßen und in der Kunstwelt die Menschen begeistern kann.
Bereits während des Zweiten Weltkriegs wurde Graffiti durch die Markierung „Kilroy was here“ in den Reihen der Amerikaner zum Phänomen. Kilroy ist ein „tag“ – Bezeichnung für eine Signatur in der Graffiti-Szene –, das überall vorher auftauchte, wo die Amerikaner stationiert wurden. Zum Schriftzug „Kilroy was here“ wurde öfters ein glatzköpfiger Soldat mit großer Nase, der über eine mit einem Strich angedeutete Mauer schaut, gezeichnet. Er stellte die Soldaten vor ein belustigendes Rätsel, das nach dem Krieg zu einer großen aber erfolglosen Suche nach dem Urheber führte.
In den 1960ern wurde Graffiti in den USA zum Trend in der Hip-Hop-Kultur und entwickelte sich zu einer starken Community. In Deutschland etablierte sich die Szene in den 1980er Jahren. Was Außenstehende nicht wissen, ist, dass in der Szene durch Schablonen, Sticker und tags miteinander kommuniziert wird und ein Wettkampf um Quantität, Qualität und Originalität schon damals in den 60ern stattfand und bis heute fester Bestandteil der Szene ist. Ein tag ist die persönliche Markierung des Sprayers. Diese werden an möglichst vielen auffälligen und ausgefallenen Orten in der Stadt verteilt. Man nennt dies das „Ich-war-hier-Syndrom“, die Künstler*innen wollen sich bemerkbar machen. Darum sind die größeren Kunstwerke, Pieces genannt, mit aufwändigen und knalligen Details versehen. Die Künstler*innen beanspruchen die Flächen der Stadt für sich, um Ruhm und Respekt in ihrer Szene für ihren Graffitistil zu erlangen.
Als eine Assoziation zu Graffiti wird die Street Art angesehen, obwohl diese eine andere Intention des Künstlers oder der Künstlerin in Bezug auf Kunst im öffentlichen Raum beschreibt. Während das herkömmliche Graffiti das Ziel hat, innerhalb der Szene herauszustechen und zu kommunizieren, will die Street Art die gesamte Öffentlichkeit ansprechen. Das alljährliche Street-Art-Event „Meeting of Styles“ (kurz MOS) am Brückenkopf in Mainz-Kastel ist ein gutes Beispiel dafür: Das MOS wird vom 15. bis 18. Juni 2023 erneut internationale und lokale Street-Art-Künstler*innen einladen, um die Stadt Wiesbaden noch etwas bunter zu gestalten. Die komplette Hip-Hop-/Street-Kultur wird durch zahleiche weitere Künstler*innen und Musiker*innen vertreten. Netzwerke werden aufgebaut und Freundschaften geschlossen, um die Freude an der Straßenkunst mit jedermann teilen zu können.
Seit des ersten „Wall Street Meetings“ 1997 am Schlachthof Wiesbaden, heute als das MOS bekannt, wird das Event von Manuel Gerullis organisiert, der seit seiner Jugend leidenschaftlich in der Hip-Hop-Szene tätig ist. Zusammen mit Kolleg*innen aus der Szene kämpft er für die Anerkennung von Graffiti als Kunst im städtischen Raum. Seine Philosophie: „Graffiti ist die Rückeroberung des urbanen Raumes.“ Das bedeutet, das Stadtbild sollte von den Bewohner*innen mitgestaltet werden dürfen. Manuel Gerullis erklärt es folgendermaßen: „Die historische Architektur ist auch ein Ausdruck von Kunst, aber eine Stadt ist kein musealer Raum. Eine Stadt ist einem ständigen Wandel unterworfen. Graffiti und historische Architektur können eine Symbiose eingehen. Schlussendlich ist es eine Frage der Integration. Wenn ich in einem historischen Ensemble von Gebäuden eine Wand bemale, dann mache ich das mit Feingefühl und Empathie und nehme die Stimmung, die Architektur und die Farben der Umgebung mit auf. Man sollte verschiedene Kunstformen und -stile nicht in Konkurrenz setzen oder gegeneinander ausspielen.“
In Wiesbaden hat das MOS viel erreicht und dazu beigetragen, dass sich die Stadt der Graffiti-Szene öffnet. Inzwischen wird das Event städtisch gefördert und internationale Künstler*innen werden stolz von der Stadtpolitik empfangen. Doch es gibt immer noch etwas zu tun: „Was wir auf lokaler Ebene noch erreichen möchten, ist mehr Farbe in die Stadt zu bringen. Das Ziel ist es, eine Galerie der urbanen Kunst zu etablieren, vielleicht sogar eine Sehenswürdigkeit zu schaffen“, beschreibt Manuel Gerullis die Zukunftspläne.
Graffiti wird allmählich als Kunstform anerkannt – und zugleich finden sich in unserem Alltag vorwiegend Negativ-Beispiele, die wenig mit Kunst zu tun haben, sondern eher als Schmierereien gelten oder sogar mit Vandalismus gleichgesetzt werden müssen. In der Szene gibt es einiges, was den schlechten Ruf des Graffitis stetig aufrechterhält. Das Besprühen oder Übermalen von privatem Besitz oder städtischem Eigentum existiert unvermindert und ist strafbar. Nicht nur Außenstehende sind davon betroffen, sondern auch die Szene selbst und Veranstaltungen wie das MOS. Künstlerisch hochwertige Graffitis werden schnell übersprüht mit tags von Einzelnen oder Gruppen. Zwei junge Künstler aus Frankfurt, Tornik und Hose, sind seit ihrer Kindheit in der Szene legal und illegal aktiv und erzählen: „Es gibt einen unausgesprochenen Graffiti-/Writer-Kodex, dass man nicht über bessere Graffitikunst sprayt.“ In der Szene erkenne man sich untereinander alleine am Stil wieder. „Die großen Pieces sind aber am besten an einer legalen Wand, damit man mehr Zeit für Details hat“, betont Hose. An den wenigen Stellen, an denen Graffitis erlaubt sind, müssen die Künstler*innen selbst mit der Entscheidung jonglieren, ein Graffiti zu übersprühen.
Klar wird in meinen Gesprächen: Eine Stadt braucht mehr Flächen, an denen sich Straßenkünstler*innen legal zeigen und ausprobieren können. Die unerwünschten Graffitis könnten dadurch eingedämmt werden. Andere Möglichkeiten, der Verunstaltung durch das taggen entgegenzuwirken, sind von der Stadt geförderte Projekte wie das „Urban Art Space“, initiiert vom Verein zur Förderung von Kunst und Kultur der Region MainzWiesbaden e.V., die das Stadtbild verschönern und beleben möchten. So wird gerade das Kirchenreulchen in Wiesbaden zu einer kleinen urbanen Open-Air-Kunstgalerie umgestaltet. Wo vorher die Geschäftswände von Graffiti-Schmierereien und Wildplakatierung übersät waren, sind jetzt weiß gerahmte Kunstwerke zu bewundern.
Das Wort „Graffiti“ ist bei vielen somit sowohl positiv als auch negativ besetzt. Er beschreibt zum einen die Verunstaltung unserer Städte durch tags und zum anderen eine Form des künstlerischen Ausdrucks. Manuel Gerullis, Tornik und Hose erschaffen als Street-Art-Künstler mit der Sprühdose neue und bunte Erlebnisse in der Stadt. Die Frage „Wann wird Graffiti zur Kunst, und wann ist es Schmiererei?“ ist dem Betrachter und der Betrachterin selbst überlassen. Events und Projekte wie das „Meeting of Styles“ und „Urban Art Space“ haben das Ziel, mehr Menschen in die Städte zu locken und sie durch Kunst zu verbinden. Die Bewohner*innen sollen sich in ihrer Stadt wohlfühlen durch den ästhetischen Reichtum, den das Graffiti – richtig eingesetzt – bieten kann.