harp'n' art

„Wer große Kunst schaffen will, muss große Einsamkeit lieben können.“

Dieser Satz von Rainer M. Thurau spiegelt sein ganzes künstlerisches Leben wider – mit der Erkenntnis auf der ständigen Suche nach ungehemmter Entfaltung seiner Kreativität auch immer Einsamkeit zu finden. Den ungeraden Lebensweg des weltweit gefragten Harfenbauers zeichnet Manuel Wenda nach.

 

Von Manuel Wenda

 

Das Atelier, welches der Harfenbauer und Bildende Künstler Rainer M. Thurau in der Walkmühle im Wiesbadener Bornhofenweg betreibt, ist ein Ort, der seinesgleichen sucht: Hier hat sich Thurau ein Refugium geschaffen, in welchem er seine Instrumente konstruiert, an seiner Kunst feilt, zur Ruhe kommt und von dem aus er zu immer neuen Ufern aufbricht. Thuraus Weg in den Harfenbau weist einige Wendungen auf. Stets stürzt sich der Künstler mit Haut und Haaren in die Dinge, die ihn in den Bann ziehen – eine bedingungslose Hingabe an unterschiedlichste Themen haben ihn sehr weit gebracht. Zum Feuilleton-Gespräch empfängt Thurau den Besucher in seinen Räumen, herzlich und zugewandt fällt die Begrüßung aus.

 

Rainer Thurau gewährt einen Blick auf sein Schaffen und sein Leben, sprudelnd wie profund gestalten sich die Ausführungen. „Atelier für Angewandte und Bildende Kunst“ lautet die volle Bezeichnung von Thuraus Wirkungsstätte, sie macht deutlich, dass Thurau einem ganzheitlichen Ansatz folgt. Er kommt auf die Rekonstruktion antiker Harfen und Lyren zu sprechen, die er in Kooperation mit namhaften Häusern, etwa dem Alamannenmuseum Ellwangen, umsetzt. Der Austausch mit den Archäologen sei beflügelnd: „Es ist etwas Besonderes, mit solchen Leuten zusammenzuarbeiten“, sagt Thurau. Im Laufe der Jahre ist er zu einem Fachmann geworden, dessen Expertise weltweit in Anspruch genommen wird.

 

 

links: Moderne Konzertharfe der Wiener Symphoniker von Thurau rechts: Barockharfe nach einem Gemälde von 1619 (in Versailles) des italienischen Malers Domenichino Zampieri
links: Moderne Konzertharfe der Wiener Symphoniker von Thurau rechts: Barockharfe nach einem Gemälde von 1619 (in Versailles) des italienischen Malers Domenichino Zampieri

Die Harfe ist eines der ältesten Instrumente der Menschheit – durch die, von präzisester Recherche begleitetet, die glaubwürdigen Nachbauten über tausend Jahre alter Funde Thurau Brücken von der Gegenwart in frühere Epochen schlägt. Dieses Ideal ist ihm ein Leitmotiv: „Ich muss mich in die jeweilige Zeit zurückversetzen – das hat etwas Schizophrenes. Ich versuche zu denken wie in jener Epoche.“ Das schätzen renommierte Künstler wie der britische Harfenist Andrew Lawrence-King, dem Thurau mehrere historische Harfen baute, wie auch die Wiener Symphoniker, welche wiederum auf einer modernen Doppelpedalharfe von Thurau konzertieren.

 

Impulse für frühe Rekonstruktionen bezieht Thurau aus historischen Stichen, Schriften und Gemälden. Somit reflektieren seine Instrumente Mu- sikgeschichte. Technik und Geist wirken bei ihm offenbar ineinander: Penibel lotet er auf seinen Quellen beruhende Maße aus. Sie bilden wie die verwendeten Hölzer einen Teil der Grundlage eines Instruments – zentral ist dabei noch etwas: „Ich entwickle meinen Klang im Kopf“, sagt Thurau bestimmt. Er schwärmt von der schauspielerischen Darbietung Tobias Morettis in einem Film über Ludwig van Beethoven („Louis van Beethoven“): „Der Mann war taub und hat alles im Kopf komponiert. Den ganzen Klang, Tempi, Besetzungen – das hat mich sehr berührt.“ Er behalte das Interesse seiner Auftraggeber im Auge, versichert Thurau, achte indes auf eine absolute Wahrhaftigkeit seiner Instrumente: „Ich kann nicht etwas bauen, was ich nicht vertreten kann.“ Auf Halde habe er keine Harfe, er fertige nur Exemplare in Absprache mit Musikern an. Man braucht Geduld, wenn man eine Harfe bei Rainer Thurau bestellt. Vier Jahre beträgt die durchschnittliche Wartezeit – dafür er- lange man ein klangliches Unikat, so der Künstler.

 

Thurau serviert Kaffee und skizziert seine Lebensphilosophie: Es sei vielleicht schön, vielseitig kreativ zu sein – ihm gehe es seit jeher um anderes: „Wenn man eine Sache liebt, dann muss man diese Liebe richtig ausleben – das ist wie bei der Liebe zu einem Menschen.“ Im Gespräch zeigt sich Thurau ungemein fokussiert, zugleich erscheint er entspannt und niemals eifernd, souverän lässt er seine Erinnerungen Revue passieren.

 

Rainer Thurau wurde 1951 in Hamburg geboren, die Eltern waren als darstellende Künstler viel unterwegs, sodass der Sohn bei Verwand- ten im schwäbischen Ostfildern aufwuchs. 1968 unternahm er einen lebensentscheidenden Schritt – er zog aus der Provinz nach Westberlin. Die eingeschlossene Stadt wurde in den Jahren der Teilung zu einem einzigartigen Biotop, das Künstler und berühmte Musiker unterschiedlichster Genres anzog. Leonard Cohen (1934-2016) sagte 2012: „Damals hatte Berlin etwas Klaustrophobisches, Dekadent-Verfallendes, und etwas Surreales. Es war ein schroffer, kalter Ort. Das hat mich fasziniert.“ In dieses Umfeld stieß der junge Rainer Thurau und saugte vieles in sich auf, traf Künstler wie David Bowie (mit dem er im Qusimodo Billiard spielte) oder Schauspieler wie Christiane Kaufmann, Günter Meisner und Maler Johannes Grützke, welch letztere beiden seine Entwicklung prägten. Es gab eine große Kunstszene und eine Form der Freiheit, die Westdeutsche gar nicht kennenlernen konnten. „Ich mag dieses esoterische Gerede, wonach man sich selbst finden muss, eigentlich nicht – aber es ist dennoch etwas dran. In einer Großstadt lernt man ständig neue Leute kennen. Ich habe das in vollen Zügen genossen und genutzt.“

 

Als Siebzehnjähriger begann Thurau mit der Malerei, zudem stand er mit Gruppierungen des politisch linken Spektrums in Kontakt. Er war ergriffen von der Kunst, widmete sich unter anderem der Portrait-, Landschafts- und Aktmalerei; zeitweise nahm er ein Medizinstudium auf, welches ihm dazu diente, sich Kenntnisse der theoretischen wie praktischen Anatomie anzueignen. „Ich bin ein Mensch der sich treiben lässt – ich bin offen für Sachen“, bekennt Thurau. Klar wird: Er deutet die Eindrücke, die er in den zahlreichen Mäandern, durch welche er streifte, gewinnt, und zehrt von ihnen. Warmherzig erinnert er sich an einen etwas älteren Freund, der ihn an die Literatur heranführte: Zunächst an Heinrich Böll, später an Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Wolfgang Koeppen. Das habe sich als „Lebensgewinn“ erwiesen. Thu- rau hat, dies klingt an, Zerwürfnisse und Enttäuschungen nicht umgehen können, jedoch stellt er heraus: „In meinem Leben finde ich in allen Charakteren und in allen Ereignissen etwas Positives. Das ist es, was ich aus meinen Erfahrungen mitnehmen möchte.“

 

 

Neben der Malerei widmete er sich in Berlin der Musik: Die Siebziger waren auch die Zeit der folkloristischen Bewegungen und des Crossover. Thurau spielte Sitar, auf den Spuren George Harrisons, dann war er in einem En- semble, welches sich irischer Musik widmete – so kam er mit der Harfe in Berührung. „Ich bin im positiven Sinne fanatisch“, erläutert Thurau; diese Besessenheit schlug sich augenblicklich in seiner Auseinandersetzung mit dem Harfenbau nieder. Sein Ensemble benötigte eine Irische Harfe und Thurau baute kurzerhand ein Instrument – als Vorlage diente ihm das Foto auf einem Plattencover. In den frühen Achtzigern waren seine Kunst und Instrumente dann erstmals auf Messen zu sehen. Musikalisch kannte er keine Grenzen: Er studierte Barockopern, hatte aber keine Scheu vor der leichten Muse, hörte Jazz wie Folk. Eine Lehre zum Harfenbauer nahm er lange nicht in Angriff - „in unserem handwerkskammerhörigen Land“, betont er lachend. Seine Begabtenprüfung auf Meisterniveau legte er schließlich 1991 in einem bayrischen Familienbetrieb ab: Der Seniorchef schwankte zwischen Fassungslosigkeit und Respekt.„Sie haben nicht gelernt?“, fragte er Thurau. „Ich bin eine abgebrochene Existenz“, antwortete dieser augenzwinkernd. Die Prüfung nahm der Junior ab, der jünger war als Thurau selbst. Durchaus demütigend musste der von der Pike auf Geschulte erleben, dass die Wiener Symphoniker eine Harfe des Autodidakten Thurau kauften und nicht von ihm selbst.

 

 

Stars diverser Musikrichtungen wandten sich an Thurau, hiervon zeugen Fotographien in seinem Atelier: Er arbeitete etwa mit der Tochter des Katalanen Jordi Savall – Arianna Savall, einer zentralen Figur der internationalen Alten Musik oder dem international berühmtesten Harfenisten des Barock Andrew Lawrence-King.

Er führe ein reiches Leben, resümiert Thurau. Private Partnerschaft sei ihm sehr wichtig, eine Familie habe er jedoch nie gründen wollen. In jüngster Zeit wendet er sich verstärkt wieder der Bildenden Kunst zu. An der Wand hängt eine Konzertgitarre: „Manchmal sitze ich einfach hier und spiele mir einen Blues.“ Der Zustand der Welt, das verhehlt der bekennende Atheist nicht, stimme ihn wenig hoffnungsvoll. Er sei froh, wenn er in seinem Atelier arbeiten könne und üble Entwicklungen außen vor blieben. Thurau erweist sich aufs Neue als Freigeist: Anderen Menschen wolle er wahrlich keine pessimistischen Ahnungen aufdrängen. Einer Düsternis gibt er sich nicht hin: Selbst die belastende Zeit der Pandemie und der Zwangsschließungen wusste er zu nutzen. Gemeinsam mit seiner Freundin sei er in der Gegend herumgefahren und habe alte Bauwerke erkundet. Die Harfe, so meint Thurau, berge Völkerverbindendes in sich – während der letzten fünftausend Jahre seien in diversen Kulturkreisen unabhängig voneinander Harfen entwickelt worden.

 

Er beschreibt es jedoch als schwierig, die interessante Entwicklung der Harfe in Kurzem zu umreißen: Die ältesten bildnerischen Darstellungen von Harfen stammen aus den ägyptischen Pyramiden, diese behielten ihre gebogene Bauweise über tausende von Jahre bei. Erst die Dreiecksform in der Frühzeit Europas lässt die allgemein bekannte Harfe erkennen. Die Harfe entwickelt sich von einem einfachen diatonischen Instrument mit wenig Saiten ab dem frühen Mittelalter zu einem bedeutenden Instrument, welches auch zunehmend dokumentiert wird in der Buchmalerei religiöser Manuskripte, in literarischen Beschreibungen und besonders durch Wiedergabe der verschiedenen Entwicklungsstufen der Harfe in den Werken Alter Meister. Parallel mit der Entwicklung der polyphonen Musik des Mittelalters hin zu den zunehmend anspruchsvolleren Musikwerken der Renaissance, des Barock, der Klassik und schließlich der Neuzeit wurde die Harfe größer, erhielt in der Spätrenaissance mehr Saiten – um auch chromatisch gespielt werden zu können – und wurde im Barock „mechanisiert“. Dies um die Vielsaitigkeit durch technologische Erfindungen auf die Nutzung von Händen und Füßen zum chromatischen Spiel zu reduzieren und damit die musikkompositorischen Möglichkeiten der Harfe zu vergrößern. Diese Mechanisierung wurde ab ca. 1720 bis zur heutigen Zeit immer wieder erweitert und technisch perfektioniert. Besonders diesen technisch komplizierten, aber auch sehr prunkvollen Harfen des Spätbarock, des Rokoko und des Empire widmet sich Rainer M. Thurau auch in seiner Tätigkeit als Restaurator.

 

 

Die Form des Dreiecks, welche dem Instrument zu eigen ist, integriert Thurau in eine künstlerische Installation welche er derzeit vorbereitet. Zudem beschäftigt er sich mit zeitgenössischer Architektur, diesbezüglich fallen Namen wie Norman Foster und Zaha Hadid. „Es strömt immer etwas auf einen ein“, bemerkt Thurau – nachlassen möchte er auf keinen Fall: „Man darf niemals glauben, man habe es geschafft.“

Dieses Credo spielt auch sein 260 qm großes Atelier wider: Einem Museum und einer Kunsthalle gleich, in welchem er sich Tag und Nacht aufhält, sodass man den Eindruck gewinnt, dieser Künstler, Kunsthandwerker und Lebenskünstler wird nie ein Ende finden, weil sein Suchen, Forschen, Entwerfen und Konstruieren nie ein Ende finden will.