Lasst die Maske fallen 

 

Szenen aus einer gelockdownten Kulturregion

 

Noch nie waren wir gemeinsam derart allein wie im Jahr 2020/21 – und derart abgeschnitten von so vielem Gewohnten. Während der Krise verselbstständigt sich Kulturlosigkeit zur eigenen Pandemie. Jetzt, wo die allgemeine Empörung abzuklingen scheint und Künstler:innen nicht mehr ganz still sein müssen, fragten wir: Wie ist die Lage? Wie viel Ausnahmezustand verträgt die Kultur in unserer Region noch? Ist der pandemische Routinebetrieb längst in Fleisch und Blut übergegangen? Oder ist man auf dem Weg, sich neu zu erfinden? Eine Musterantwort gibt es nicht, aber es zeigen sich durchaus Tendenzen für kulturellen Konsens. Ein Wimmel- und Stimmungsbild.

 

von Yvonne Kirchdorfer 

Foto: Ullrich Knapp
Foto: Ullrich Knapp

Kultureller Körperkontakt: gestern war heute fast schon Zukunft

Wer am 10. Juli 2019 die Konzerthalle des Schlachthof Wiesbaden betritt, der läuft gegen eine Wand. Es ist der zweitheißeste Sommer in Deutschland seit Aufzeichnung des Wetters im Jahr 1881, ein Tag, an dem sich die Straßenbeläge auf bis zu 60 Grad Celsius aufheizen. Die Masseneuphorie in der Halle verwandelt die stehende Luft in Regenwaldklima. Feucht wie nach einem Monsun verdunstet selbst das Bier im Becher. Aerosole? Bis dato den meisten unbekannt. Die Haut der halbnackt tanzenden Meute glitscht zusammen; ein Sprühnebel aus  fremdem Dunst und Schweiß legt sich auf die aufgeladenen Körper wie der Schmierfilm einer geplatzten Seifenblase. Niemand bleibt unberührt von der Körperflüssigkeit des nächsten – und keinen stört's. Vorne auf der Schlachthof-Bühne spielen die Toten Hosen zu Ehren der Black Devils, des ältesten Motorradclubs in Deutschland. Ungeachtet der Temperaturen geben sie in dieser Mega-Sauna alles, was geht: Ein tropfender Campino stürzt sich mehrfach sichtlich vergnügt ins Publikum. Fremde Hände, an denen eben noch die ganze Hitze des Sommers klebte, verwandeln sich unter ihm zur Rutschbahn. Alle sind unter Strom, geraten in Ekstase, als wäre es der letzte Gig, den sie je besuchen dürften. Keiner ahnt, dass rund ein dreiviertel Jahr später die Welt der Kunst und Kultur stillstehen wird.

Kulturelle Distanz: heute ist morgen hoffentlich Vergangenheit

Sicher existieren kulturell relevantere Ereignisse als ein Mainstream-Konzert der Toten Hosen. Zumindest ringt man in der öffentlichen Diskussion unablässig darum, an welchem Punkt intellektuelle Unterhaltung aufhört und das Triviale beginnt – selbst wenn jede/r von uns irgendwie ein Stück Kultur ist und sich hier die Geister bereits am Begriffsverständnis scheiden. Das Konzert bleibt jedoch ein beispielloses Zeitdokument für die Disruption menschlichen Verhaltens seit März 2020, bleibt doch kaum vorstellbar, was 2019 distanzbefreit noch alles ging, ohne Gedanken an Aerosole und Abstand. Heute ist das Schlachthof-Publikum froh, wenn es mit Schutzmaske eine Picknickdecke im vorgeschriebenen 1,50-Meter-Abstand linientreu entfalten und gesittet der Open-Air-Musik lauschen darf. Ganze 14 Picknick-Konzerte mit je 950 Personen fanden im August im hinteren Kulturpark auf dem Gelände statt – Decken-Hopping verboten, Fußwippen erlaubt. „Von einem Regelbetrieb ist das natürlich noch weit entfernt“, beschreibt Schlachthof-Vorstand Gerhard Schulz die Lage. „Auf dem gleichen Gelände haben wir bis 2019 Open-Air-Konzerte mit bis zu 10.000 Personen realisiert.“ 

 

Konzerte im Lockdown: „Sie wirkt so kühl, an sie kommt niemand ran“

Ganz gleich, wie sehr die Zuschauer:innen endlich wieder eine Musikdarbietung genießen – auf die Musizierenden muss das disperse, maskierte Publikum ebenso distanziert wirken wie das coole Model im gleichnamigen Elektro-Hit von Kraftwerk. Regungslose Fans vor Ort bleiben fern wie im Fernsehen – wie mag so etwas die Motivation auf der Bühne befeuern? Doch bleiben wir bei den Hard Facts: Was ist den Kulturbetrieben seit Corona widerfahren und wie reagierten sie darauf?

MUSIK UND VERANSTALTUNGEN

Ausnahmezustände: vom Veranstalter zum Verunstalter

Bei den Picknick-Konzerten zeigt sich, dass wenig von der Stimmung im Publikum übrig bleiben darf. Dennoch seien die Picknick-Konzerte gut besucht, resümiert der Presseverantwortliche Hendrik Seipel-Rotter. „Die Leute machen alle mit, lassen sich testen. Das erkennen wir daran, dass die Besucherzahlen nicht sinken und die „No-Show-Rate“ der vor Ort nicht erscheinenden Ticketkäufer nahezu gleich geblieben ist wie vor Corona.“ Die Leute scheinen selbst auf Abstand das mitzunehmen, was geht. Daneben hat der Kulturverein das CORON-Arts Festival ersonnen, bei dem regionale Künstler:innen aller Sparten sich für einen Auftritt im Juni 2021 bewerben konnten. Das Besondere: Die Gage wurde sofort – schon Monate vor dem Festival-Termin – ausbezahlt unter dem Motto: „get payed now – perform later“. Aufgrund der Pandemie hat der Verein den Termin nun ins kommende Jahr verschoben als geplanten Rückblick auf Corona. Doch was ist heute schon planbar?

 

Kulturlandschaft: von der Kunst zur (Überlebens)kunst

Die Lage bleibt ungewiss. Corona nervt, Corona überfordert, Corona überbordet. Das Thema ist bereits vor dem Ende der Pandemie medial zerpflückt. Gemüter bewegen sich zwischen hoffnungsvoll, resigniert und abgestumpft; eigentlich mag keiner mehr davon reden – und doch müssen wir es. Pausenlos. Gnadenlos. Das einzige, was in dieser Zeit der neu konstruierten „Normalität“ tröstet, ist die Tatsache, dass sie nichts und niemanden ausspart. Sie offenbart Probleme wie unter einem Brennglas – und sorgt damit flächendeckend für Zündstoff. Bekanntermaßen traf es verglichen mit anderen Branchen die Kulturlandschaft ab März 2020 besonders hart. Kunst wurde zur (Über)lebenskunst. Ohne Perspektive. Ohne Planungssicherheit. Je tiefer das Virus in unser Wirtschafts- und Sozialgefüge eindringt, desto mehr Brandflecken hinterlässt es auf der Kulturlandkarte.

 

"Ganz zu Anfang der Pandemie und dem Veranstaltungs-Verbot hat man gemerkt, dass die “deutsche Kulturpolitik” nicht wusste, wie in der Kultur gearbeitet wird und wie der “allgemeine Kulturbetrieb” organisiert ist. Man hat es daran erkennen können, dass so viele Solo-Selbständige durch die Maschen der Rettungsnetze gefallen sind." So Gerhard Schulz, Vorstand Kulturzentrum Schlachthof Wiesbaden e. V. 

Aufgabe für die Zukunft: mehr Präsenz für Kunst und Kultur 

„Vielleicht hat das Virus einfach nur offengelegt, wie weit wir noch davon entfernt sind, die ‚Kultur in ihrer gesellschaftlichen Kraft wahrzunehmen‘ und wertzuschätzen“, vermutet Kim Engels vom Wiesbadener Frauenmuseum. So fordert die Kulturdezernentin der Stadt Mainz, Marianne Grosse, gar die Verankerung von Kultur als einem Staatsziel, um deren Qualität und Vielfalt stärker in den Fokus zu rücken. Auch die Stadt Wiesbaden will viel tun und beabsichtigt laut Kulturentwicklungsplan, künftig unter anderem mehr finanzielle Mittel und Räumlichkeiten bereitzustellen, lokale Kooperationen zu fördern sowie Kulturschaffende stärker mit der Lokalpolitik zu vernetzen, was der hierfür vorgesehene Kulturbeirat bereits in Angriff nimmt. 

 

Schloss Freudenberg: Lösung im Heilschmerz des Unheilbaren

Die Bedenken der Kulturbetriebe zerstreut das zunächst nur wenig. Matthias Schenk vom Wiesbadener Schloss Freudenberg drückt diese eigens für das feuilleton in Form eines lyrisch anmutenden „Blättchens“ aus. Es handelt von der Relevanz des Einzelnen für die Gemeinschaft und den durch Corona ausgelösten „Heilschmerz“. Für ihn eine Wunde, die immer wieder aufbricht. 

Blättchen über Relevanz und Heilschmerz, Matthias Schenk, Schloss Freudenberg
Blättchen über Relevanz und Heilschmerz, Matthias Schenk, Schloss Freudenberg

Shelter from the Storm: raus aus dem Schlamm des Lebens

Dem Kulturlockdown setzt das Schloss Freudenberg eigene kulturelle Relevanz entgegen. Es erweiterte in diesem Sommer sein In- und Outdoor-Ganzjahresprogramm „Erfahrungsfeld der Sinne“ um das temporäre Kulturformat „Shelter from the Storm“ in Anlehnung an den gleichnamigen Dylan-Song. Dieses bietet bis in den September abwechslungsreiche Gemeinschaftserlebnisse, darunter Konzerte, Theater, Kino, Kunstausstellungen, Kleidertausch-Partys oder das Festival „Lore im Garten“. Genug relevanter Stoff jedenfalls, um darin jene heilsame „Wärmesubstanz“ zu finden, die Schenk in seinem „Blättchen“ propagiert. 

 

Veranstalter: „Kleinstgeschichten sind übriggeblieben“

Andere Veranstalter waren früher dran als das Schloss Freudenberg: Bereits im Juli 2020 schwenkte das Event-Team von „Palast Promotion“ um Michael Stein und Lothar Pohl auf hybride Konzepte um, die zuvor auf Großevents setzten, so das jährliche Stadtfest in Wiesbaden. Unter der Schirmherrschaft des  Wiesbadener Bürgermeisters Oliver Franz wurde rasch in digitale Dimensionen umgedacht und das Online-Charity-Festival „Wi für Kultur“ initiiert. Palast Promotion fuhr damit zu einem recht frühen Zeitpunkt der Pandemie eine Plattform hoch, die hochsensibilisierte Isolationsgemüter zum Live-Streamen und Spenden bewegte. In der Tat spielte die Online-Veranstaltung eine durchaus vorzeigbare Summe ein, die analog der Website wifuerkultur.de aktuell bei rund 150.000 Euro liegt – eine Summe, die man laut Stein bislang unter rund 100 regionalen Künstler:innen aufgeteilt hat. „Die konnten sich zwar damit keine großen Sprünge leisten, aber immerhin ihre Miete bezahlen und ein paar Mal den Kühlschrank füllen“, berichtet er. Weitere Events via wifuerkultur.de sind geplant.

 

Kulturvernetzende Clubs und Locations: die Spartenvielfalt leidet

Vor allem die kleinen, experimentellen Anbieter leiden, darunter die Gastro-Kultur-Location „Café Wakker“ am Wallufer Platz in Wiesbaden, dessen Betreiber-Team vor Corona Lesungen, Ausstellungen, Theater oder Mini-Konzerte organisierte und etwaige Zuschüsse direkt an die Künstler:innen weitergab. Alles soll möglichst nachbarschaftlich ablaufen – profitabel aber ohne Profit im Zentrum, so Betreiber Claus Schenk. Mit Corona ereilte das Wakker die Kulturkrise: Sieben Monate Schließungszeit, in der einfach nichts stattfinden durfte. Auch jetzt, so Schenk, „verhindern die begrenzten Räumlichkeiten schlichtweg jedes vernünftige Hygienekonzept für weitere Kultur-Events.“ Die öffentliche Fläche davor könne ebenfalls vom Wakker nicht open air genutzt und abgesperrt werden. Zwar unterstützten die Nachbar:innen am Wallufer Platz die Location und wünschen sich dort ebenfalls wieder mehr Kulturangebot, dies sei aber aus genannten Gründen nicht möglich. Hinzu käme eine einzelne Nachbarin, die – trotz positiver Rückmeldungen der anderen Anwohner – dem Team offenbar aus Prinzip nicht wohlgesonnen sei. Das Wakker-Team hege allerdings weiterhin diesbezügliche Ambitionen, die auch synergetisch mit anderen Betreibern stattfinden könnten.

 

Musikszene Mainz: raus aus dem Stumm-Modus

Viele kleine Kultur-Räume ereilt das gleiche Schicksal, unter anderem das „Schon Schön“, der Club von Norbert Schön auf der Großen Bleiche in Mainz, der zunächst komplett geschlossen werden musste und inzwischen durch Projektförderung des Landes Rheinland-Pfalz regelmäßig Live-Streaming anbietet. In Mainz gelang es Musiker:innen vor Corona, sich zum Netzwerk „Musikszene Mainz“ zu verbinden, das der dortigen Musiklandschaft mehr Gesicht und eine Stimme verleihen will und 2019 Erfolge mit Pop-up-Konzerten an verschiedenen Mainzer Standorten feierte. 2020 sollte der zugehörige Verein gegründet werden, jedoch fehlen seit dem Lockdown offenbar Gelegenheiten für das musikalische Miteinander. Dahingegen verbucht Kulturdezernentin Marianne Grosse in Mainz ein insgesamt wachsendes Angebot an coronakonformer Live- und Open-Air-Kultur, unter anderem mit Formaten wie „Zitadelle Live“ oder Konzerten in den Kulturgärten im Schlossinnenhof oder dem KUZ (Kulturzentrum Mainz).

 

Künstler:innen: Spartenübergreifendes, vernetztes Denken

Die Künstlerin Christiane Schauder und der Publizist und Produzent Günter Minas gelten als ein Knotenpunkt der Mainzer Kulturszene. Das Ehepaar kuratiert regelmäßig Ausstellungen und organisiert spartenübergreifende Events in der Mainzer Neustadt und im Bleichenviertel, darunter „3 x Klingeln“, eine mehrtägige Melange aus Kunst, Literatur und Musik. Das ganze Jahr über bringen die beiden an wechselnden Orten Kulturschaffende zusammen, bieten ihnen eine räumliche Plattform und sind an zahlreichen Kulturprojekten in Mainz beteiligt, darunter eine Veranstaltungsreihe zu Victor Hugo mit Gesprächskonzerten im eigenen Atelier oder Lesungen in der Mainzer Stadtbibiliothek. Seit Corona inszenierten Schauder und Minas regelmäßig Vor-Ort-Veranstaltungen, unter anderem im November 2020 über den „Mittelalter-Popstar“ Heinrich von Meißen, genannt „Frauenlob“ eingedenk Rundgang zu historischen Punkten, Theaterinszenierung, Lesung und Kunstausstellung – ein stetiger Spartenmix, der verhindert, dass die Vor-Ort-Kultur sich in einem einzelnen schöpferischen Schwerpunkt manifestiert. Das macht eine Bestandsaufnahme umso schwerer und zeichnet das Bild eines relativen Gleichgewichts innerhalb der Mainzer Kulturlandschaft, so wie es die Mainzer Kulturdezernentin, Marianne Grosse, beschreibt.  

             BILDENDE KUNST

„Man muss die Kunst schon direkt erfahren, ein Video kann das niemals ersetzen“

 

Wolfgang Gemmer, Vorsitzender des „Kunstverein Bellevue“

Museen und Galerien: Die Fülle der (digitalen) Leere

Wie bei Veranstaltern, so macht sich bei Museen und Galerien die Pandemie vor allem bei den Kleinen bemerkbar. Diese scheitern häufig an der Umsetzung von Hybrid-Konzepten. Digitalisierung erfordert oftmals die Anschaffung neuer Technik, ganz abgesehen von weiteren Kosten und erheblichem Mehraufwand bei gleichzeitig geringeren Einnahmen. Wolfgang Gemmer, Vorsitzender vom Wiesbadener Kunstverein Bellevue will dem allgemeinen „Streaming-Hype“ nicht folgen und setzt lieber auf Zeiten, in denen Ausstellungen besucht werden können. Mit der Ausstellung „Making Reality“ der Künstlerin Grit Reiss, die bis zum 8. August diesen Jahres zu sehen war, setzte er ein Zeichen für die „echte“ Welt und zeigte, inwieweit Fiktion bereits in unsere digital geprägte Realität einfließt. 


Ausstellungen: Alles auf Abstand 

In der Tat begann 2020 die Zeit, als Galerien Ausstellungen unterbrachen, Chöre das Proben unterließen, Kinos schlossen oder Künstler:innen sich in Ateliers zurückzogen, um isoliert zu arbeiten und ganz neuen „Lock(down)stoff“ zu erschaffen. Sabine Phillip, die Leiterin des Wiesbadener Stadtmuseums im Marktkeller „SAM“ hatte gerade Anfang Februar die Retrospektive „Fatal Genial“ über Ludwig Hohlwein, ein Wegweiser der modernen Werbegrafik, fertiggestellt. Leider umsonst – der abschnittsweise verlängerte Lockdown machte allen einen Strich durch die Rechnung. Auch der Nassauische Kunstverein unterbrach seine Ausstellung „Alles im Wunderland“, und nahm diese erst im August diesen Jahres wieder auf. Wo ein physisches „Artentreffen“ unmöglich wurde, versuchten viele, digital zu werden, unter anderem durch filmische Begleitdokumentationen wie die Kunsthalle Mainz am Zollhafen. Dazu zählt auch die Video-Vernissage des Wiesbadener Galeristen Leander Rubrecht, der unter anderem anlässlich der Ausstellung „LebensVasen“ von Sabine Dehnel floral bemalte Frauenrücken in Retro-Badeanzügen in den Blickpunkt rückte.  

 

Am handlungsfähigsten während Corona bleiben offenbar jene Galerien, Museen und Ateliers, die nicht allein auf Streaming angewiesen sind, sondern über großzügige Räumlichkeiten verfügen. Dazu gehört unter anderem die Mainzer Künstlerin Christiane Schauder, die seit Juli letzten Jahres in ihrer „Zweitstelle“ direkt im Mainzer Stadtzentrum abwechselnd verschiedene Mainzer Künstler ausstellt. Generell, so Schauder, verfüge Mainz jedoch nur noch über eine ausgedünnte Galerieszene, die seit Corona nicht zu wachsen vermochte.

 

Frauenmuseum Wiesbaden: Gendergerechter Denk- und Freiraum 

Ein Online-Erlebnis bleibt immer das Abziehbild einer realen, sinnlichen Kunsterfahrung, zumindest dann, wenn die technische Infrastruktur fehlt, um annähernd originalgetreu hindurchzuführen. So entschied sich Kim Engels vom Wiesbadener Frauenmuseum dagegen, Ausstellungen digital zu zeigen, da „dies nur Sinn macht, wenn es gut gemacht ist.“ Die digitalen Veranstaltungen im Frauenmuseum riefen laut Engels gemischte Reaktionen hervor: „Einerseits waren Besucher:innen begeistert, andererseits befremdet – und zum Teil auch mit dem Medium nicht vertraut.“

 

Auseinandersetzung mit Corona: Ausstellung zur Gewaltstatistik 

Das Frauenmuseum, das gerade 2020 vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet wurde, gehört seit rund 35 Jahren zu den Urgesteinen der Wiesbadener Museumslandschaft. Mit dem Lockdown sei jedoch nicht nur das Publikum von einem auf den anderen Tag ausgeblieben, sondern auch alle ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen, bedauert Engels. Generell habe mit dem Hygienekonzept eine Abstandskultur begonnen, die sich schließlich – gänzlich körperlos – ins Netz verlagert habe, was allerdings durch kreative, spontane Reaktionen aufgefangen werden konnte. Im Juni und Juli 2021 zeigte das Frauenmuseum bereits eine Ausstellung mit acht künstlerischen Positionen zur Arbeitssituation von Künstlerinnen während des Lockdowns. Auch ab Herbst wird Covid zum Rahmenthema mit Fokus auf die sprunghaft angestiegene Statistik häuslicher Gewalt vor dem Hintergrund der Geschlechtergerechtigkeit und zeitgenössischen Rollendefinitionen.„Insgesamt erlebe ich die Menschen eher in einer Orientierungsphase mit dem Wunsch nach ‚Normalisierung‘. Also die Ausstellung vor Ort besuchen und den Online-Trailer als Appetizer.“ Kim Engels, Vorsitzende des Wiesbadener Frauenmuseums

FILM

Corona in der Hauptrolle: ein Kraftakt für (Film)theater 

Im Kino ist es bekanntlich immer dunkel, doch so düster wie mit Covid hat es für die Branche in der gesamten Filmtheatergeschichte noch nie ausgesehen – wenngleich sie so einige Tiefs hinter sich hat, unter anderem mit Aufkommen von Fernsehen, Video, DVD, Pay TV & Co. und dem damit einhergehenden Kinosterben. Ab 2020 war Corona für mindestens ein halbes Jahr der Anti-Held, der dem Publikum die Kinoleinwände versperrte. Seit Juli 2021 dürfen endlich wieder Zuschauer:innen kommen. Im Wiesbadener Apollo-Center wartete zum Neustart ein Mix aus Blockbustern von Godzilla VS Kong bis Catweazle, auch liefen wieder Filme in den kommunalen Sälen an – allerdings bei lediglich 25 bis 30 Prozent erlaubter Auslastung und mit strengen Abstands- und Hygienekonzepten. So war das Murnau-Filmtheater am Wiesbadener Schlachthof nach dem Lockdown gezwungen, die Sitzplatzkapazität 100 auf 30 Sitzplätze zu reduzieren – Einlass nur mit platzgenauen Tickets und tagesaktuellem Schnelltests. Für alle Betriebe ein Kraftakt, ungetrübtes Kinovergnügen zu bieten.  

 

Mehr noch als die kommunal geförderten Kinos leiden die wenigen, übrig gebliebenen Programmkinos in der Region. Sie müssen als reine Wirtschaftsbetriebe alle Energien bündeln. Hier gab es stellenweise Hilfe seitens der Länder, beispielsweise für das Corona-gebeutelte Cine Mayence in Mainz.

 

Kino und Film-Festivals: 

Andrea Wink zeichnet sich seit Jahren für das Exground-Filmfestival – das älteste und überregional bekannteste Filmfestival Wiesbadens mit Schwerpunkt Arthouse – verantwortlich. Sie stöhnt: „Eine schlimme Zeit war das. Jetzt geht es seit einigen Wochen wieder aufwärts, allerdings mit eingeschränkten Zuschauerzahlen.“ Wink stört vor allem die unsichere Lage und Unplanbarkeit der eigenen Veranstaltungen. Für das Exground im November fährt sie erneut zweigleisig: einerseits mit Filmen und Rahmenprogramm in diversen Spielstätten wie dem Caligari, andererseits online mit Video-on-Demand. Etwas Gutes brachte die Krise in Wiesbaden allerdings mit sich:  eine Kooperation von Caligari und Murnau Filmtheater in Form der „Wiesbadener Filmkunstkarte“, die in beiden Kinos dauerhaft zum vergünstigten Eintritt von sechs Euro berechtigt und möglichst viele „Kinonaut;innen“ anziehen soll.

DARSTELLENDE KUNST

„Am schlimmsten hat es die getroffen, die vor Publikum

auftreten müssen.“ 

 

Günter Minas, freier Autor, Produzent und Ausstellungskurator

Bloß kein Theater: Corona als Anti-Held zwischen Protagonist:in und Publikum

Viele Bühnen beenden gerade in diesen Tagen ihre Sommerpause und nehmen mutig ihr Programm unter strengen Hygienemaßnahmen auf, so seit dem 2. September das Pariser Hoftheater mit dem Corona-Satireprogramm von Thomas Reis „Mit Abstand das Beste“. Auch die Wiesbadener Kammerspiele im Bergkirchenviertel steckten gerade noch mitten in den Proben für die Premiere von „Achterbahn“ von Eric Assous. Die Mainzer Ausstellungskuratoren Christiane Schauder und Günter Minas wissen um die existenziellen Nöte der Theaterleute, denn sie beherbergen in ihren privaten Räumlichkeiten regelmäßig Schauspieler:innen, die für den Zeitraum der Proben und Auftritte in Mainz eine Unterkunft suchen. So probten diese 2020 wochen- oder gar monatelang mit aller Intensität hinter verschlossenen Türen – bevor aufgrund der Inzidenzzahlen urplötzlich alle Aufführungen abgesagt werden mussten. Ohne Nähe zum Publikum fehlt darstellenden Künstler:innen jede Daseinsberechtigung und Möglichkeit, sich auszudrücken – ganz abgesehen von den finanziellen Sorgen und dem vergeblichen Einsatz im Vorfeld. Proben oder nicht proben? Inszenieren oder nicht inszenieren? Das waren im Lockdown die entscheidenden Fragen.

 

Mit Abstand das Beste: Alternative und innovative Tanz- und Schauspielkonzepte 

Das „Freie Theater Wiesbaden“ um Barbara Haker konnte ihr Stück „Widerstand“ über die wahre Geschichte der Wiesbadener Bergkirchengemeinde nicht aufführen und setzt dieses daher derzeit filmisch um. Haker tritt als Produzentin auf, während der Schauspieler Anton Algrang Regie führt. Im kommenden Jahr soll der Film, der an aktuell Originalschauplätzen gedreht wird, auf Festivals laufen. Er erzählt unter anderem die tragische Geschichte eines Liebespaares, das mutig der Nazi-Schreckensherrschaft entgegentritt. Mit einer ähnlichen Idee reagierten die Mainzer Kammerspiele, die ihre Theaterproduktion zum Beethoven-Jahr 2020 in Kooperation mit dem ZDF filmisch umsetzen konnten. Derzeit verlassen Künstler jede „Komfortzone“, um ihrem Publikum endlich wieder nahe zu kommen – vielleicht ist das die persönliche „Überwindungsprämie“, die der Intendant der Wiesbadener Kammerspiele zum Aufhänger der aktuellen Spielzeit macht. 

 

Andere Bühnen entwickelten ein spontanes Alternativprogramm im Freien. So führte die abgesagte Ballett-Premiere „Molto Vivace!“ des Mainzer Staatstheaters die Tänzer:Innen auf das Dach des Hotels „Kronberger Hof“, wo sie immerhin eine fünfzehnminütige Auskopplung der Choreographie vor kleinem Publikum zeigen konnten. Im Winter 2020 hatte das Ensemble in Abstimmung mit dem Mainzer Ordnungsamt kleine Stücke für Passanten vor dem Eingang des Staatstheaters aufgeführt. Andere, so das Hessische Staatstheater oder die Kleinkunstbühne „Pariser Hoftheater“ in Wiesbaden, arbeiten hinter den Kulissen an Streaming-Angeboten, um das Theater wenigstens aus der Ferne in Gang zu halten. Auch der jährliche Wiesbadener Impro-Sommer draußen auf dem Neroberg, der seit Juli coronakonform spielen darf, driftete mit einem „deutschlandweit einzigartigen“ Online-Krimi-Spiel in die virtuelle Welt. 

Vor allem die kleineren Theatersäle reagierten recht prompt mit Innovationen, unter anderem mit Umbaumaßnahmen. Darunter das „Kleine Haus“ in Mainz, welches Parkett abbaute und den Zuschauersaal mit Sofas umgestaltete, die gleichermaßen für Distanz und gemütliche Wohnzimmeratmosphäre sorgten. Daneben entstand mit dem Wiesbadener „Kultur-Dschungel“ eine zusätzliche Bühne mit besonderem Flair, in dem unter anderem die mystische Seite der Natur zum Teil der Inszenierung wird. Auf diese Weise „soll der Zugang zu einer anderen Welt möglich werden“, so der Leiter Jan Dieckmann im Video-Interview.   

 

Auch des Wiesbadener Theater 3D für kleine, feine Formate hat in der Coronazeit umgedacht. Das Ensemble reist regelmäßig mit dem Inklusionsmotto: „Kultur ist für alle da!“ an ungewöhnliche Orte wie Hospizen oder auf Spielplätze. Während Corona entwickelt das Team zusätzlich „partizipative Performance-Formate“ zu den wichtigen Fragen der Zeit, unter anderem der Frage: „Wie willst du in Zukunft leben“. Während des ersten Lockdowns entstand unter anderem das Online-Konzept „a casa“ für Familien im Lockdown, die ihre eigenen vier Wände künstlerisch erforschen wollen.  An diese neu gefundenen Formen „weg von der Guckkastenbühne“ will Theater 3D in Zukunft anknüpfen, dies auch mit stationären Pop-up-Konzepten, unter anderem im neu geschaffenen Kulturraum „Marleen“ im Einkaufszentrum Lili am Wiesbadener Hauptbahnhof

LITERATUR

Lichtblicke für Literatur: Raum für poetographische (W)orte

Worte können infizieren. Zum Glück nicht mit Corona, sondern mit Gedanken, Ideen, Emotionen – schließlich ist Schreiben, Lesen oder Zuhören nahezu überall möglich. Trotz allem blieb das literatische Zentrum Wiesbadens, das Literaturhaus Villa Clementine, von Corona nicht ganz verschont. Nach dem Lockdown nahm es am 16. Juni den Veranstaltungsbetrieb wieder auf und vom 5. bis 11. September finden wieder die Literaturtage vor Ort statt. Kurator ist der Schweizer Autor Peter Stamm mit einem Programm, das „die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft behandelt“. Dieses besteht nicht etwa nur aus Lesungen, sondern aus Konzerten, Tanztheater oder Filmvorführungen sowie einem Live-Stream. Auch hier behandelt man Literatur längst nicht mehr als isoliertes Kulturfeld, sondern entwickelt dieses interdisziplinär und über Sparten hinweg. 

 

Orte für Worte: Kollektivliteratur ins Netz oder nach draußen verlagert

Daneben ersann Stamm im Rahmen der 22. Wiesbadener Literaturtage das digitale Projekt „W-ORTE“, mit dem jede/r die Hessische Landeshauptstadt um einen poetischen Kurztext auf der interaktiven Microsite w-orte.de erweitern darf – hierfür einfach in die Karte klicken. Die Ver(w)ortungen der individuellen Erinnerungen ergeben am Ende ein Kollektiv-Epos über die Landeshauptstadt.