Links Moos, rechts Strauss - In der Mitte eine Wand

Veronika Moos leitet den Malsaal am Staatstheater Wiesbaden. In ihrem ersten Buch setzt sie einem Doppelhaus in der Wiesbadener Bahnhofstraße ein Denkmal.

 

Von Shirin Sojitrawalla

 

 

In der Bahnhofstraße 44 lebten die Großeltern der Bühnenmalerin Veronika Moos. Direkt daneben, im Haus mit der Nummer 46, die jüdische Familie Strauss. In ihrem Buch „Nachbarn“ veröffentlicht Moos Briefwechsel der beiden Familien aus den Jahren 1939 bis 1948. 

 

 

 

 

 

Veronika Moos ist aus dem Wiesbadener Theater nicht wegzudenken. Seit rund 40 Jahren arbeitet sie am Hessischen Staatstheater, hat dort ihre Ausbildung gemacht und leitet seit 1999 den Malsaal. Die Mehrzahl des Theaterpublikums weiß wohl nicht, wer sie ist, arbeitet sie doch buchstäblich hinter den Kulissen. Ihre Arbeiten indes dürften die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer schon einmal gesehen haben. Denn Veronika Moos und ihr Team malen nach den Entwürfen der jeweiligen Bühnenbildner alle – Prospekte genannten – Theaterbilder und Dekorationen. Die Ausbildung dauert drei Jahre; die praktische Ausbildung erfolgt in den Werkstätten der Theater, die theoretische an den Berufsfachschulen. Veronika Moos engagiert sich seit Jahren für ihren Beruf, ist auch Vorsitzende des bundesweiten Prüfungsausschusses.

 

Schon als Jugendliche war sie laut eigener Aussage „ein unfassbarer Theaterfan“ und wusste früh, dass sie später etwas mit Theater und Malen machen wollte. Bis heute liebt sie die Mischung aus handwerklicher und intellektueller Auseinandersetzung, die ihr Beruf bietet. Dabei habe sich seit dem Barock nicht viel geändert, berichtet sie. Es werden immer noch die gleichen Werkzeuge und Techniken benutzt. Auch wenn man heutzutage vieles drucken kann, es streng genommen nicht mehr neu malen muss, merkt man: „Gemaltes ist immer schöner als ein Druck“, sagt sie. Denn der sei flach, entfalte keine Tiefenwirkung.

 

Veronika Moos wurde 1962 in Wiesbaden geboren und hat nicht nur das Glück, einen Beruf auszuüben, den sie liebt, sondern zudem den wohl schönsten Arbeitsplatz im Theater. Ein lichtdurchfluteter Saal, in der Vergangenheit zu Festspielzeiten auch schon mal als Veranstaltungsort genutzt.

 

Im herrlichen Malsaal, der so groß wie ein Tanzsaal ist, befindet sich in einem Seitenraum die so genannte Farbküche. Darin ein großer Kasten

mit den als Grundlage für die Malfarben verwendeten Pigmenten: lind-

grün, zitronengelb, rubinrot und viele leuchtende Farben mehr. Eine Augenweide, die an das Farbenspiel indischer Gewürzmärkte erinnert. Im Malsaal selbst hängen großformatige Bilder, darunter Werke, die von den Auszubildenden in einer bestimmten Zeit nach einer Vorlage gemalt werden mussten. Auf dem Boden ein riesiges Blumenmuster für das Musical „Sister Act“ und schwarz-weiße Porträts für eine anstehende Opernproduktion. Gemalt wird im Stehen, mit langen Pinseln. Der ganze Raum ist bunt gesprenkelt, überall Farbkleckse. Veronika Moos läuft im Malsaal hin und her, als sei er ihr Wohnzimmer. Ein gewöhnlicher Arbeitstag beginnt dort um 7 Uhr morgens, endet um 16 Uhr. Sie hat sich daran gewöhnt und weiß die Vorteile eines freien Nachmittags zu schätzen.

 

Für ihr erstes Buchprojekt hat sie sich freitags freigenommen und sich in aller Herrgottsfrühe an den Schreibtisch gesetzt. Im vergangenen Jahr ist „Nachbarn“ dann bei Waldemar Kramer im Wiesbadener Verlagshaus Römerweg erschienen. Das Buch erzählt vom Innenleben eines Doppelhauses an der Bahnhofstraße 44/46. Links wohnten die Großeltern von Veronika Moos, rechts die jüdische Familie Strauss. Das Buch nähert sich den beiden Familien anhand ihrer Briefwechsel. Der ihrer Großeltern befand sich im Privatarchiv ihres Vaters, der Briefwechsel der Familie Strauss liegt im Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden. Geholfen haben Veronika Moos nicht nur der Historiker Rolf Faber und seine umfangreichen Forschungen, sondern auch die Aufzeichnungen ihres eigenen Vaters Gerhard Moos, ehemals Lehrer. Er hat viel über die Zeit des Nationalsozialismus geschrieben und ein Buch über seine Jugend herausgebracht („Feuer bis zur Asche“).

 

 

Stolpersteine vor den Gebäuden in der Bahnhofstraße 44/46
Stolpersteine vor den Gebäuden in der Bahnhofstraße 44/46

Wer heute vor dem inzwischen entkernten Haus in der Bahnhofstraße steht, schaut auf mehrere Stolpersteine, darunter auch die für Hedwig und für Sebald Strauss. Ihr Sohn Alfred hat die Nazizeit im bolivianischen La Paz überlebt und kehrte nach dem Krieg nach Wiesbaden zurück. Er liegt auf dem jüdischen Friedhof, auf dem Gelände des Nordfriedhofs, begraben. Dort befindet sich auch eine Gedenktafel für seine Eltern und seine Schwester Beatrice, alle drei wurden ermordet, die Eltern 1942 im KZ Theresienstadt.

 

Im Buch liest man ihre Briefe auf der rechten Seite, die Briefe der Familie Moos auf der linken. Das entspricht der Aufteilung des imposanten Doppelhauses an der Bahnhofstraße. Veronika Moos erinnert sich, sie habe gleich gewusst, dass das Layout so aussehen müsse. Auch den Titel „Nachbarn“ hatte sie sofort im Sinn. Für eine mögliche szenische Lesung stelle sie es sich genau so vor: in der Mitte eine Wand, links Moos, rechts Strauss. Bislang gab es schon vier Lesungen aus dem Buch, weitere sind geplant.

 

Wer „Nachbarn“ liest, wird sprachlos und traurig, auch weil einem die Personen in ihrer privaten Korrespondenz sehr nahe kommen. Das Buch ist ein bestechendes Zeitzeugnis und ein Dokument unfassbarer Grausamkeit. Es erzählt von der Indoktrination der Täter, dem Leid der Opfer und den Schrecken des Kriegs. „Die Familien Moos und Strauss stehen stellvertretend für Hunderttausende anderer Menschen und Familien während der Nazidiktatur“, schreibt Veronika Moos in ihrem Vorwort. Gerade vor dem Hintergrund des wütenden Angriffskriegs in der Ukraine erfahren die lebhaften Schilderungen des Kriegsalltags und der Nächte im Luftschutzkeller grausige Aktualität.

 

Ähnliches gilt für die Schilderung der Irrfahrt des Dampfers „St. Louis“, der im Mai 1939 mit mehr als 900 jüdischen Flüchtenden an Bord von Hamburg Kurs auf Havanna, Kuba, nahm. Dort wies man das Schiff ebenso ab wie in den Vereinigten Staaten und in Kanada; schließlich konnte es in Belgien anlegen. Die Passagiere wurden von dort in verschiedene Länder verteilt. 254 von ihnen wurden später im Holocaust ermordet. (Wikipedia, Irrfahrt der St. Louis) Wer das heute liest, denkt an Schiffe im Mittelmeer mit Geflüchteten an Bord, die versuchen, in Europa einen sicheren Hafen anzusteuern. Geschichte wiederholt sich eben doch.

 

Mit ihrem Buch begonnen hat Veronika Moos einen Tag nach den rassistischen Anschlägen von Hanau im Februar 2020. Als sie „Nachbarn“ zwei Jahre später beendete, begann der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Finstere Zeiten. Veronika Moos stellt fest, dass sie zwar nicht viel Neues aus den Briefwechseln über die Zeit des Nationalsozialismus gelernt habe, die Familie Strauss aber sei die erste jüdische Familie, die sie so gut kennengelernt habe, ihr sei sie unheimlich nah gekommen.

 

 

 

Die Großeltern von Veronika Moos, Hildegard und Heinrich, werden für die Leserinnen und Leser lebendig, man versteht ihre Sorgen und Nöte, auch wenn das Ausmaß ihrer nationalsozialistischen Überzeugungen erschreckend ist. Veronika Moos spricht davon, dass die Arbeit an dem Buch sie vom eigenen Großvater entfernt habe.

 

Eine Frage lässt sie nicht los: Wie kam der Briefwechsel der Familie Strauss in die Hände von Sohn Alfred Strauss? Seine im Exil empfangenen Briefe wird er mitgebracht haben, aber wer hat ihm seine Briefe nach dem Krieg übergeben? Veronika Moos hat ein paar Vermutungen und freut sich über Hinweise. 

 

„Nachbarn“ bietet Stadtgeschichte und ist auch ein veritables Wiesbaden-Buch. Wer in der hessischen Landeshauptstadt wohnt, kennt die Schauplätze, weiß, wo die alte Synagoge stand und wo sich die neue befindet. Noch heute geht man in Wiesbaden im Nerotal spazieren, so wie damals schon die Familien Moos und Strauss. In den Nerotal-Anlagen dürften sich Bänke mit der Aufschrift „Nur für Arier“ befunden haben. Auch vom enorm schneereichen Winter 1940 gibt das Buch anschaulich Auskunft, von bis zu zwölf Zentimetern Neuschnee sprechen die Briefe. Die Buslinie 3 fuhr schon damals in Richtung „Unter den Eichen“, eine Stadt mit Traditionsbewusstsein.

 

Anderes indes erkennt man nicht wieder. So schwärmt der junge Gerhard Moos: „Der Wiesbadener Hauptbahnhof war erheblich kleiner als der Frankfurter Bahnhof, aber viel vornehmer. Ich wusste gar nicht, was ich mehr bestaunen sollte, die riesigen Glasdächer über den Bahnsteigen oder die blitzblanke Eingangshalle.“ Lang ist‘s her.

 

Warum ist Veronika Moos Wiesbaden und dem hiesigen Theater treu geblieben? „Jedes Mal, wenn ich wechseln wollte, wurde gerade ein attraktiver Job in Wiesbaden frei“, sagt sie. So wurde sie schon mit Mitte 20 stellvertretende Leiterin und später dann Leiterin des Malsaals. Irgendwann sei ihr zudem klar geworden, dass man das Theater gar nicht wechseln müsse, denn Intendanten kommen und gehen, das bringe genug Wechsel mit sich. Schreiben wird Veronika Moos weiterhin, als nächstes möchte sie recherchieren, was aus den Menschen geworden ist, die in ihrem Buch am Rande vorkommen. Zu tun bleibt ihr so oder so genug.

 

Veronika Moos: „Nachbarn“,

Waldemar Kramer/Verlagshaus

Römerweg, Wiesbaden 2022,

174 Seiten, 20 €.