Mensch sein mit künstlicher Intelligenz

 

Die Pandemie hat den gewohnten Rhythmus unserer Gesellschaft durcheinandergewirbelt. Viele Fragen tauchten in einem neuen Kontext auf. Die Betroffenheit war überall schmerzlich spürbar. Für jeden Einzelnen in unterschiedlicher Härte und Auswirkung. Kunst und Kultur kamen zum Stillstand. Die Gesellschaft und allen voran wird die Kunst und Kultur sich dieser Entwicklung stellen müssen. Deshalb greifen wir in dieser ersten Ausgabe des Magazins feuilleton das Thema mit der Frage an den Sinn des Lebens auf.

 

von Dr. Andreas Lukas

Johannes Kriesche - Inner Circle 5, Öl auf Leinwand, 2020, 180 x 130
Johannes Kriesche - Inner Circle 5, Öl auf Leinwand, 2020, 180 x 130

In seinem Buch „Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“ stellt der Philosoph Richard David Precht Menschenwürde, Menschlichkeit, die Nicht-Abbildbarkeit von Gefühlen, den Freiheitsbegriff sowie die grundsätzliche Existenz der Menschheit als zentrale Kerne der Diskussion heraus. Es gilt in diesem Zusammenhang gesellschaftliche – und nicht nur technische – Fragen zu beantworten, die das Zwischenmenschliche nicht ad absurdum führen. Und dieses Zwischenmenschliche, das haben die langen Monate der Einschränkungen durch die Pandemie gezeigt, sollte neu in einem anderen Licht betrachtet und bewertet werden. Hier kann sich das Interesse nicht nur um möglichst umfassende Effektivität und Effizienzkriterien drehen. Mit den Worten von Precht: „Es ist faszinierend zu lernen, wie wenig uns ein Mehr an Technik automatisch glücklicher oder auch zufriedener macht, wie ganz anders der Mensch ist als seine Maschinen und welche spannende Entdeckungsreise zu uns selbst uns bevorsteht.“

 

Wie erwartungsfroh wir vor nicht allzu langer Zeit in diese 20er gestartet sind. Es sollten unsere 20er werden. Ich erinnere mich, welche Möglichkeiten sich eröffneten bei dem Rückblick auf die 20er des vergangenen Jahrhunderts. Fortschritt und Zukunftsvisionen trieben die Menschen an. Viele Errungenschaften ermöglichten ein ganz neues Lebensgefühl, wie Film und Kino, Information und Unterhaltung mit dem Radio im Wohnzimmer, elektrisch angetriebene Grammophone katapultierten Musik ins Heim, unbeschränkter Aktionsradius mit dem neuen Otto-Motor im Auto, mit dem Zeppelin über den Atlantik, Bewegungsfreiheit in der Mode und so weiter und so weiter.

 

Ob unsere jetzigen 20er einmal das Prädikat „golden“ erhalten würden, liegt in unserer Hand, in unserem Handeln, dachte ich jedenfalls. Und dann kommen die Winzlinge. Unvorbereitet treffen sie uns an. Und jetzt lautet die Frage: Kann die uns alle überraschend getroffene Pandemie nicht auch einen Weg zu einer Entdeckungsreise zu uns selbst öffnen? Genau hier ist die Kraft zur Sensibilisierung durch Kunst und Kultur gefragt. Sie kann Vorreiter sein und Dinge ins Bewusstsein rücken. Kündigt sich mit der Veränderung und Schnelligkeit der technischen Entwicklung auch eine neue gesellschaftliche Perspektive an? Welche Perspektive wird dies sein? Fragen, die uns begleiten und die wir uns stellen.

Fragen nach dem Sinn

„Nein, man kann nicht mehr über die Zukunft reden wie in der Vergangenheit. Man wird auch nicht weiterhin sagen können, dass alles wirtschaftliche Wachstum im Dienst der Menschheit geschieht, auch wenn viele Menschen von den Vorzügen profitieren. Auf das Ganze der Menschheit gerechnet, müssen sich der Nutzen und die Kosten, die Zugewinne an menschlicher Lebensqualität und der Verlust an Natur, Ressourcen und biologischen Lebensbedingungen miteinander abgleichen lassen – jede andere Art des Fortschritts wäre keiner, sondern schlichtweg Wahnsinn. Und selbst wenn künstliche Intelligenz Konzernen wie Google dabei hilft, ihre Server besser zu kühlen und Strom zu sparen, wenn clevere Industrievernetzung weniger Energie verbrauchen könnte – all diese Effizienz im Einzelnen ist erst dann effektiv, wenn die Gesamtmenge des Energie- und Ressourcenverbrauchs dadurch tatsächlich abnimmt und nicht wie bisher dramatisch steigt. 

Digitale Technologie, insbesondere Maschinenlernen und künstliche Intelligenz, sind einerseits Beispiele unter vielen im Hinblick auf unseren Ressourcenverbrauch. Zum anderen, und das ist hier wichtiger, stehen sie paradigmatisch für den Fortschritt, für die Gestaltung unserer menschlichen Zukunft. In dieser Sicht wird KI gleichsam zum Symbol eines alten Denkens im Angesicht neuer Herausforderungen. 

 

Wenn der schwedische Philosoph und IT-Visionär Nick Bostrom von einer »barmherzigen und triumphalen Nutzung unseres kosmischen Erbes« durch künstliche Intelligenz spricht, dann wundert man sich nicht nur über den cäsarenhaften Imperativ zur Triumphalität, man erschrickt auch darüber, dass seine Version von »Barmherzigkeit« kein einziges soziales, geschweige denn ökologisches Problem unserer Zeit überhaupt anspricht. Bostroms Angst, dass eine »Intelligenzexplosion die ganze Welt in Brand steckt«, benötigt zu ihrer Erfüllung keine böse, gegen den Menschen gerichtete künstliche Intelligenz. (Nick Bostrom: Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution, Suhrkamp 2018, S. 364/365)  Wie viele naheliegendere Brandrodungen entscheiden in den nächsten Jahrzehnten über das Schicksal der Menschheit als ausgerechnet jene übel entgleister Computer!


Doch es gibt noch immer viel zu wenige, die sich für beides gleichermaßen interessieren: für die Sorge und die Notwendigkeiten des biologischen Überlebens und für den technischen Fortschritt durch künstliche Intelligenz. Es scheint, als fände beides auf getrennten Planeten statt. Bei der Umweltfrage geht es fast nie um die anthropologische Weiterentwicklung der Spezies Mensch; in der KI-Debatte fast nie um Energieverbrauch, Ressourcenausbeutung und CO2-Emissionen. Der Gedanke, Menschen irgendwo in den unwirtlichen Weiten des Weltalls anzusiedeln, scheint IT-Gurus und Techno-Utopisten näher zu sein, als den Lebensstil der Industrienationen auch nur sanft anzuzweifeln; die Gründe dafür dürften im Weiteren deutlich werden. Techno-Visionen und Ökologie – es ist die Kluft, der Graben unserer Zeit!

 

Unter solchen Vorzeichen ist die Orientierungslosigkeit im Umgang mit Ökologie und Technik vor allem eine Vernunftkrise. Wir scheinen nicht mehr recht zu wissen, was ein vernünftiger Fortschritt ist. Der Aufbruch ins zweite Maschinenzeitalter muss nicht nur clever, klug und geschmeidig sein, er muss auch künftige Desaster erkennen und vermeiden. Was können wir von einer selbstlernenden digitalen Technik künftig erwarten und was nicht? Wo ist künstliche Intelligenz ein Segen, und wo wird sie mittel- bis langfristig zum Fluch? 

 

Im Mittelpunkt steht damit die neue alte Frage, was es heißt, Mensch zu sein. Sie stellt sich heute mit größter Brisanz. Unsere Selbstdeutung und Selbstverwirklichung verlangen dringend nach einer Revision. Was sind unsere realistischen Erwartungen? Was unsere Einschätzungen einer guten Zukunft? Und welche Sinngebungen kommen darin vor? Denn eine Diskussion des technischen Fortschritts, die eine solche Sinndimension nicht kennt, geht notwendig am Menschen vorbei. Sinn ist jener Horizont, vor dem das, was Menschen jenseits des nackten Überlebens tun, verständlich wird. Wenn sich die Frage nach der technischen Zukunft auf verstörende Weise von der Frage nach dem Sinn des Lebens gelöst hat, so gilt es nun, diese Dimension zurückzugewinnen. Und sie kennt vor allem zwei Fragen: Wohin? und Wozu?“

Richard David Precht

Soweit zunächst die Fragen des Philosophen zu Lebensqualität und Lebensbedingungen in einer technisierten Welt. Kunst und Kultur haben aus dieser Sicht seit jeher die Aufgabe aufmerksam zu machen und etwas ins Bewusstsein zu rufen. Es geht dabei auch um die zunehmende Unübersichtlichkeit, der wir uns stellen müssen. 


Die Unübersichtlichkeit unserer Welt

„Unsere Gefühle, unsere Werte, unser Zeitbewusstsein, unsere Ich-Identität und unsere Moralfähigkeit sind so, wie sie sind, weil sie sich im Laufe der Evolution bewährt haben. Sie sind absichtslose Anpassungen an unser zeitlich begrenztes Dasein auf der Erde. Wir haben uns mit ihrer Hilfe in einer komplizierten physikalischen, biologischen und kulturellen Umwelt zurechtgefunden. Wie der US-amerikanische Psychologe und Philosoph William James um die vorletzte Jahrhundertwende gezeigt hat, spielen Fakten dabei meist nur eine untergeordnete Rolle. Übergeordnet ist der Wunsch, sich zu orientieren und dabei möglichst nicht verunsichert zu werden. Würde künstliche Intelligenz daran etwas ändern, zum Beispiel dadurch, dass sie nun selbst für jegliche Orientierung von Menschen sorgt, verlieren diese langfristig ihren elementaren Lebensinstinkt und damit etwas sehr Wichtiges, das sie zu Menschen macht.

 

Erkenntnis ist kein von der menschlichen Psyche unabhängiger Wert, sondern sie dient der Anpassung an unsere Umwelt und aneinander. Unsere Intelligenz ist großartig, aber nicht um eine objektive Welt zu durchschauen, sondern um sich in ihr einzurichten und zu bestehen. Sie ist dadurch unendlich viel reichhaltiger als künstliche Intelligenz, gerade weil sie nicht für wenige ausgewählte Zielfunktionen optimiert wurde. Die Leistung unseres Bewusstseins, eine Welt zu konstruieren und uns zugleich das Gefühl zu geben, in ihr zu sein, setzt ungezählte »stumme« Fähigkeiten voraus, die uns im Alltag zumeist gar nicht deutlich werden. Und doch machen sie uns mindestens ebenso sehr zum Menschen wie die bewussten Operationen unseres Verstandes. Wir rechnen, sehen und hören sehr viel schlechter als Computer, aber wir orientieren uns auf grandiose Weise in oft unendlich komplexen Kontexten. Die Datenwelt der künstlichen Intelligenz hingegen nimmt nur wahr, was sie wahrnehmen soll. Diese Welt ist sehr viel kleiner als die menschliche. Ihr fehlt, wie Donald Knuth sagt, alles »Gedankenlose«.

"Unsere Intelligenz ist großartig, aber nicht um eine objektive Welt zu durchschauen, sondern um sich in ihr einzurichten und zu bestehen."

Künstliche Intelligenz ist immer Welt aus dritter Hand. Eine Welt aus erster Hand wäre die objektive Realität von allem, sie bleibt Menschen in ihrem begrenzten Bewusstseinszimmer notwendig verborgen. Unser Wirbeltiergehirn mit seinen beschränkten Sinneswahrnehmungen kann sie nicht erfassen, sondern nur bedürfnisgerecht modellieren als Welt aus zweiter Hand. Reproduzieren wir Teile dieser Welt dadurch, dass wir sie in Bits und Bytes, Megabytes und Kilobytes abbilden, schaffen wir ein sehr menschliches Produkt, eine Welt aus dritter Hand.

 

Diese Welt ist trotz beeindruckender Spezialfähigkeiten nicht sehr komplex, dafür aber auffällig geordnet. Sie besteht aus ganzen Zahlen, binären Sequenzen, einer festgelegten Logik, präzisen Definitionen und Algorithmen. Damit ist sie genau so, wie Menschen sie sich wünschen. Sie ist übersichtlich angeordnet, wohldurchdacht, mathematisch beschreibbar, effizient und auf ihre Weise optimal – all jene Qualitäten, die Philosophen vor der Aufklärung, insbesondere Gottfried Wilhelm Leibniz, so gerne der Welt aus erster Hand angedichtet haben. 


Und so schaffen wir uns heute – nach der großen Desillusionierung des 19. Jahrhunderts, als Gott aus der Welt verschwand und der Mensch von der Mitte an den Rand rutschte – unsere eigene wohlorganisierte Welt, um all unsere Ansprüche und Sehnsüchte nach Klarheit und Ordnung zu erfüllen. Die spannende Aufgabe wird sein, uns dabei nicht durch uns selbst verwirren zu lassen und alle drei Welten durcheinanderzubringen. Die messbare Seite der Welt wird, nach einem Satz des Philosophen Martin Seel, durch künstliche Intelligenz nicht zur Welt, sondern eben nur zur messbaren Seite der Welt. (Martin Seel: Theorien, Fischer 2009, S. 63) Hält sie in unsere gesamte Lebenswelt Einzug und ersetzt sie, so kürzen wir über kurz oder lang all die Dimensionen heraus, die Menschen zu Menschen machen, und erklären die unvollständige und human defizitäre Kopie zum Original. Perfekte Ordnung, absolute Klarheit und transparente Eindeutigkeit sind nur in der Welt aus dritter Hand zu haben, auf unserem mondbeschienenen Planeten wachsen sie nicht. Und die geordnete Welt des Computers ändert nichts an der Unübersichtlichkeit der Welt, sie gießt nur eine Illusion über ihr aus.“

 

Eine menschliche, humane Zukunft gehört wohl eher einer Gesellschaft, die es ertragen kann, dass nicht alles hoch effizient und unter Kontrolle sein wird und kann, sie aber in der Lage ist Schicksalsschläge wie die Pandemie verkraften und überleben zu können. „Man soll nicht das begrenzen“, wie der Physiker Anders Levermann in einem Interview der Zeit es formuliert, „was man als Grund für einen Missstand vermutet, sondern das, wir als Gesellschaft nicht mehr wollen.“ Das sei für alle einfacher und transparenter.  Im Grunde gilt es das zu bewahren, was den Menschen zum Menschen macht. Und das gilt auch in einer Welt mit künstlicher Intelligenz.

 

 

 

 

(Wir danken dem Goldmann Verlag für die Abdruckgenehmigung der Passagen aus dem Buch „Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“ von Richard David Precht, Seite 19-22 und Seite 36-38)