Neue Formate, Vielfalt und Interaktivität

20 Jahre Literaturhaus Clementine

Susanne Lewalter @ Katharina Dietl
Susanne Lewalter @ Katharina Dietl

Seit 2002 hat der literarische Austausch in Wiesbaden im Literaturhaus Villa Clementine einen stilvollen Ort gefunden. Vielfältige und anspruchsvolle Lesungen sowie Diskussionen stehen auf dem Programm mit Schwerpunkt Gegenwartsliteratur. Damit soll auch eine Brücke zu anderen Künsten geschlagen werden. Dr. Andreas Lukas sprach zum 20jährigen Jubiläum mit der Leiterin der Literaturhauses Villa Clementine und Literaturreferentin Susanne Lewalter.

 

Von Dr. Andreas Lukas

 

 

20 Jahre ist ein schönes Jubiläum: Wie empfinden Sie diese Zeit und bewerten die Bedeutung des Literaturhauses Villa Clementine?

 

Ein Literaturhaus aufzubauen ist eine spannende und schöne Herausforderung und wenn ich auf die vergangenen 20 Jahre zurückblicke, stelle ich fest, dass sich in der Literaturszene viel verändert hat. Nicht nur die Zahl jährlicher Neuerscheinungen hat sich enorm erhöht, auch die Formen, wie Literatur vermittelt wird, haben sich gewandelt. Bereits vor der Pandemie war zu beobachten, dass neben den klassischen Lesungen auch Literaturgespräche, Workshops, Lesungen mit Musik und spartenübergreifende, performative Formate, wie Poetry Slam, Lyrikperformances an Bedeutung gewinnen. Die Pandemie hat darüber hinaus neue digitale Vermittlungsformen und die Inszenierung von Literatur verstärkt: Live-Streamings oder Bücher-Podcasts erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Aber auch eine Gegenentwicklung hat bereits eingesetzt, wie interaktive Ver- anstaltungen, die Menschen möchten einander wieder begegnen und sich austauschen.

 

Wenn ich mir das Programm der letzten zwei Jahrzehnte im Literaturhaus anschaue, so spiegelt sich diese Entwicklung darin wider. Die Formate reichen von klassischen Autorenlesungen, Podiumsgesprächen über Lesebühnen, Krimitheater, Literaturrätseln, musikalischen Live-Hörspielen bis zu literarischen Führungen durchs Museum. Mit dem „Jungen Literaturhaus“ hat außerdem das Programm für junge Menschen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Auch die Veranstaltungen vieler Vereine, Buchhandlungen und Initiativen, die im Literaturhaus ihr Zuhause gefunden haben, haben sich verändert: Ein gutes Beispiel ist der Zusammenschluss regionaler Autorinnen und Autoren in dem Verein „Dostojewskis Erben“: Autoren sitzen mittlerweile nicht mehr nur am Schreibtisch, sie vernetzen sich und planen gemeinsam szenische Lesungen.

 

Der Förderverein des Literaturhauses wiederum lädt Literaturinteressierte ein, sich im Literaturforum über aktuelle Bücher auszutauschen. Mit dem „Anderen Salon“ haben wir außerdem einen Raum geschaffen, in dem interaktive, multimediale Formate ausprobiert werden können.

 

Was die überregionale Bedeutung des Literaturhauses angeht, so bin ich stolz darauf, dass es uns gelun- gen ist, 2015 ins Netzwerk der Literaturhäuser aufgenommen zu werden.

 

Damit verbunden ist auch die Medienpartnerschaft mit dem Kultursender ARTE.

 

Kultur- und Literaturszene in Wiesbaden: Was schätzen Sie besonders daran?

 

Ich schätze sehr, dass es für die Größe der Stadt sehr viele Inhaber geführte Buchhandlungen gibt. Das zeigt, dass hier viele Menschen Bücher wertschätzen. Die Literaturszene empfinde ich außerdem als sehr vielseitig und lebendig: Buchhandlungen, Kultureinrichtungen, die Kirchen oder auch die Jüdische Gemeinde und viele Vereine und Initiativen bieten regelmäßig ein vielfältiges Programm an. Der Zusammenhalt untereinander ist groß: Alle setzen sich gemeinsam für die Literatur ein, da gibt es untereinander nur wenig Konkurrenz. Im August und September gab es wieder das Literaturfestival in Sonnenberg vom Förderverein des Literaturhauses, die Reihe Tarbut der Jüdischen Gemeinde begann, am 10. September fand zum ersten Mal mit „Wiesbadener WörterWelten“ ein Aktionstag rund ums Buch statt und wir feiern das Jubiläum des Literaturhauses. Ich hoffe, uns gelingt es, dass das Publikum wieder zahlreich in die Veranstaltungen strömt.

 

 

Welche Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch Chancen sehen Sie insgesamt?

 

Ich denke, dass sich das Kulturleben insgesamt und auch die Literaturszene durch die veränderten Lebensgewohnheiten der Menschen in der Pandemie verändert haben. Ob sich das Rad wieder etwas zurückdreht, kann im Moment noch niemand sagen. Die Kulturinteressierten entscheiden oft spontaner, wohin sie gehen, sie gehen weniger oft aus und selektieren ihre Interessen stärker. Ich denke, dass die Entwicklung wohl dahin gehen wird, dass Kooperationen innerhalb der Szene noch mehr Sinn machen, um größere Zielgruppen zu erreichen. Außerdem erscheint es mir wichtig, auf die veränderten Rezeptionsgewohnheiten der Menschen einzugehen. Das bedeutet, dass Kreativität in der Vermittlung gefragt ist und das bedeutet auch eine Chance für die Literatur- und Kulturszene.

 

 

Welche Themen/Inhalte werden in den nächsten Jahren prägend sein?

 

Die Literaturszene ist einerseits stark an den Buchmarkt gekoppelt, wo sich die Kommerzialisierung durch die Pandemie noch verstärkt hat. Anspruchsvolle Literatur hat es nun noch schwerer als Unterhaltungsliteratur. Andererseits suchen die Menschen in der gegenwärtigen politischen Krise Antworten auf die drängenden Zukunftsfragen. Herausragende Literatur ist häufig ein Seismograph gesellschaftlicher Veränderungen und so ist es nicht verwunderlich, wenn sich die Rolle der Autorinnen und Autoren politisiert. Ein Beispiel ist der Streit um die Ausrichtung des PEN, der zum Rücktritt von Deniz Yücel geführt hat.

 

Ich denke, es wird weiterhin eine große Vielfalt in der Literatur geben: die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung und das ästhetische Spiel mit Sprache oder auch die Unterhaltung. Was ästhetische Ausdrucksformen angeht, so wird die Digitalisierung ihre Spuren hinterlassen.

 

 

Was wünschen Sie sich persönlich für Ihre Arbeit in den kommenden Jahren?

 

Ich bin sehr dankbar für diesen spannenden und herausfordernden Job, das Literaturhaus leiten zu dürfen. Ohne mein Team, das von starkem Zusammenhalt, persönlichem Engagement und Kollegialität geprägt ist, wäre das bisher Geleistete nicht möglich gewesen. Ich wünsche mir, dass wir weiterhin viel Freude an unserer Arbeit haben, um die kommenden Herausforderungen, die ich zuvor skizziert habe, zu meistern. Ich wünsche mir weiterhin ein neugieriges und offenes Publikum. Goethe schrieb einmal seinem Freund Eckermann: „Nun streitet sich das Publikum seit zwanzig Jahren, wer größer sei: Schiller oder ich, sie sollten sich freuen, dass überall ein paar Kerle da sind, worüber sie streiten können.“