Sehnsuchtsort Walhalla

 

Von Gudrun Rothaug

 

Vor 125 Jahren wurde das neobarocke Walhalla-Theater in Wiesbaden eröffnet. Seit 15 Jahren ist es im Besitz der Stadt. Seit fünf Jahren darf aus Sicherheitsgründen niemand das Gebäude betreten. Jetzt werden neue Pläne für eine Wiederbelebung des sagenumwobenen Walhalla konkreter.

 

Fällt der Name Walhalla, leuchten in Wiesbaden viele Augen, denn der Ort gehört zur Identität der Stadt. Einerlei, ob man sich noch an die einst glanzvolle Geschichte erinnert, an das Kino im großen Saal, an die legendäre Diskothek „Big Apple“ oder zuletzt an die beliebten Veranstaltungen des Walhalla Theater e. V. im Spiegelsaal, als das Gebäude zum großen Teil schon lange leer stand. Als Problemimmobilie bereitete das Walhalla der Stadt Kopfzerbrechen und als Sehnsuchtsort erhitzt es die Gemüter vieler engagierter Menschen. Die prunkvollen Räume mit Spiegeln, Lüstern und goldbemaltem Stuck werden von Jahr zu Jahr maroder. Gerüchte über Abrisspläne gingen um, denn manche Ungereimtheit und Intransparenz haben Verschwörungstheorien in der Stadt befördert. Wiesbadens Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende hat das Walhalla nun zur Chefsache erklärt. Im Januar dieses Jahres machte er bekannt, dass die Sanierung des bedeutenden Bau- und Kulturdenkmals 2024 beginnen soll, um die authentischen Räume aus der Kaiserzeit zu retten. Zwei, drei Jahre später soll das Walhalla wieder öffnen, als offenes Kulturzentrum mitten im Zentrum Wiesbadens. Gelingt das, kann Wiesbaden stolz auf einen einzigartigen Ort sein, der neue Energie in die Stadt bringt.

 

„Retten, was zu retten ist“

„Werden die neobarocken Räume des Walhalla nicht schnell gesichert, dann zerbröselt es der Stadt unter den Händen“, konstatiert Udo Gleim. Der Architekturprofessor an der Hochschule Darmstadt ist Mitglied des Gestaltungs- und Denkmalrats Wiesbaden. Er hat die Innenräume des Walhalla besichtigt und war beeindruckt und bedrückt zugleich. Fasziniert habe ihn, dass die neobarocke Architekturinszenierung noch immer ihre Kraft entfalte, trotz des langen Leerstands. Bedrückend sei es zu sehen, wie stark die denkmalgeschützten Bereiche vom Verfall bedroht sind und an vielen Stellen der Stuck abfallen ist. Der Gestaltungsrat empfiehlt deshalb dringend, die Sanierung der denkmalgeschützten Räume von einem Konzept für Betrieb und Nutzung abzukoppeln. Zu lange habe sich hier die Katze in den Schwanz gebissen: weil eine Sanierung des Walhallas ohne ein Nutzungskonzept nicht möglich schien -– und umgekehrt.

 

„Jetzt so schnell wie möglich“, sagte auch OB Gert-Uwe Mende Anfang des Jahres in einer öffentlichen Sitzung des Wiesbadener Kulturbeirats. Zugesagte und zu erwartende Fördergelder gingen verloren, wenn die Sanierung nicht 2024 beginnt. Damals präsentierte OB Mende eine Konzeptstudie des Wiesbadener Architekturbüros BGF+ für die Sanierung der sehr verschachtelten Walhalla-Architektur. Diese Studie empfiehlt den Abriss des zum Walhalla gehörenden Gebäudes in der Hochstättenstraße 1. Stattdessen soll in einer jetzigen Baulücke ein Neubau für Fluchttreppenhäuser und technischen Anlagen entstehen. Denkbar wäre der Erhalt der repräsentativen Fassade dieses Klinkerbaus von 1910, sagt Udo Gleim vom Gestaltungsrat. Nicht allen gefällt der Plan, dieses Gebäude abzureißen und für das geplante offene Kulturzentrum wären die kleinen Räume darin gut nutzbar.

Ein neuer Kulturort für die Stadtgesellschaft

Der Kulturbeirat macht sich schon lange für eine Wiederbelebung des Walhalla stark. Ein niedrigschwelliger Kulturort für die gesamte Wiesbadener Bevölkerung soll entstehen, mit langen Öffnungszeiten an sieben Tagen in der Woche und ohne Konsumzwang. Wie Ernst Szebedits, Vorsitzender des Kulturbeirats, betont, sei das neue Walhalla keine Konkurrenz für die lokale Kultur.

 

„Die Aufregung um das Walhalla ist Ausdruck der Faszination, die die Leute kirre macht und hochemotional reagieren lässt.“ So nimmt Marie Johannsen die Stimmung um den sagenumwobenen Kulturort wahr. Sie ist Dramaturgin am Staatstheater Wiesbaden und als Mitglied des Kulturbeirats auch Teil der Steuerungsgruppe, die das Walhalla inhaltlich entwickeln soll. Alle bisherigen Konzepte hätten wiederholt, was es ohnehin schon gibt, so die Dramaturgin. Für ein Walhalla der Zukunft müssten aber die festen Kategorien Club, Kino und Theater aufgelöst werden.

„Das Walhalla ist eine Chance für Wiesbaden, wieder zusammenzuwachsen, als Stadtgesellschaft und Gemeinschaft, ein Ort, an dem man sich grüßt, statt aneinander vorbeizugehen“, sagt Marie Johannsen. Alle sollen sich hier begegnen können: beim Breakdance oder Chorproben, bei politischen Diskussionen oder im Film- und Tonstudio, in dem Jugendliche ihren ersten Rap-Track schneiden. Der große Saal könnte flexibel geteilt werden, ohne feste Bestuhlung und mit Schallschutz-Stellwänden; bewegliche Bühnenelemente könnten immer neue Räume für Aufführungen schaffen. Zum Beispiel für gemeinsame Produktionen, etwa ein Tanzprojekt, musikalisch vom Orchester der Musikakademie begleitet und mit einem Bühnenbild, das Architekturstudierende gestalten. Im neuen Walhalla kann es auch Raum für Computerspielentwicklung und Workspaces geben. Ein Kulturort müsse als Utopie gedacht werden, nicht als Einrichtung, die sich in erster Linie finanziell rechnet. So möchte der Kulturbeirat, dass kein Unternehmen über die Nutzung der Räume entscheidet, sondern ein künstlerisches Kurator*innen -Team.

 

Ein offenes Kulturzentrum in neobarockem Ambiente könnte die Stadt im 21. Jahrhundert enorm aufwerten und beleben, so wie das Walhalla Anfang des 19. Jahrhunderts in der Weltkurstadt und in den 1950er-Jahren in der Filmstadt Wiesbaden.

 

Wallala Walhalla

„Walhalla“ nannten sich Ende des 19. Jahrhunderts viele private Volkstheater -– nach der Ruhmeshalle in der nordischen Mythologie und in Abgrenzung zu den Varietétheatern in Frankreich. Wiesbadens Walhalla wurde 1897 als prachtvolles Spezialitätentheater mit Großrestaurant vom Bauunternehmer Jakob Rath eröffnet. Die Stadt hatte sich vom Dorf zum Weltkurort entwickelt und prunkvolle Villen und Kulturbauten waren entstanden. Nur drei Jahre nach dem kaiserlichen Hoftheater öffnete das Walhalla, das ein vergnügliches Pendant zum Hochkultur-Theater war. Ins Walhalla strömten die Menschen, um zu speisen und Operetten, Revuetheater und Kabarett zu sehen. Im großen Saal tanzten Artisten auf dem Eis und segelten durch die Lüfte; sogar einen Elefanten hatte man zum 10-jährigen Bestehen in den großen Saal gehoben. Im Untergeschoss gab es eine Bar und eine Kegelbahn. Von Beginn an wurden Filme gezeigt und zwischen den damals kurzen Filmen unterhielt man das Publikum mit Varieté-Nummern. Zu Stummfilmen spielte eine große Kinoorgel, die heute im Düsseldorfer Filmmuseum steht.

 

Ab den 1920er-Jahren betrieben August Zickenheimer und sein Sohn Wilhelm ein Kino im großen Saal. Wilhelm Zickenheimer, der im Nationalsozialismus das KZ überlebt hatte und im Klinkerbau des Walhalla in der Hochstättenstraße 1 wohnte, eröffnete 1950 im Keller des Hauses das Lichtspieltheater „Bambi“. Hier sah Volker Schlöndorff als Kind mit der gleichnamigen Disney-Produktion seinen allerersten Kinofilm. Der Oscar-Preisträger hat sich im vergangenen Jahr bei einem Konzept-Workshop für das Walhalla engagiert. Schließlich wurde hier der Grundstein für seine Karriere gelegt. Andere waren schon berühmt, als sie dem Walhalla einen Besuch abstatteten. Maria Schell kam in den 50er-Jahren gerne zu den Spätvorstellungen ins Bambi, in einer Zeit, als Wiesbaden zur Filmstadt avanciert war. Auf dem Gelände „Unter den Eichen“ war 1949 eine Filmproduktionsstätte mit Kopieranlage und Filmateliers entstanden und so kam es, dass auch Zsa Zsa Gabor das Walhalla besuchte, genauso wie Elvis Presley während der Dreharbeiten für den Film „Café Europa“. 1946 fand im Walhalla sogar der konstituierende Festakt zur Gründung des Landes Hessen statt, weiß der Architekt und Bauhistoriker Martino La Torre. Er kennt die gesamte Geschichte und engagiert sich leidenschaftlich für das Walhalla. „Am Walhalla wird die Stadt gemessen werden, am bisherigen Umgang damit und auch am zukünftigen. Und je größer man jetzt versucht, am Rad zu drehen, umso kleiner wird das Ergebnis“, sagt Martino La Torre. Er war an einem Konzept beteiligt, das die Gruppe „Walhalla-Studios“ zur Wiederbelebung des Walhalla im Jahr 2017 in der Stadt vorgestellt hat.

 

Von Plänen und Konflikten

Alle bisherigen Versuche, das Walhalla als Ganzes wieder zu beleben, sind gescheitert. Mehrere private Investoren schmiedeten Pläne –- keiner ging auf. Seit über 30 Jahren steht das Walhalla nun schon zu großen Teilen leer. Ab 2001 bespielten die Theaterleute um Schauspielerin Sigrid Skoetz das Foyer und den Spiegelsaal mit einem anspruchsvollen Programm. 2007, vor fünfzehn Jahren, konnte sich die Stadt die Planungshoheit über diesen zentralen Ort in der Innenstadt sichern. Damals kaufte die städtische Tochtergesellschaft WVV das Gebäude für 2,5 Millionen Euro. Und man blieb nicht untätig: 2014 wurde ein Stegreif-Wettbewerb ausgeschrieben. Das Wiesbadener Architekturbüro BGF+ gewann und präsentierte als Betreiber das bundesweit agierende GOP-Theater. In Wiesbaden gab es Proteste gegen ein Varieté-Theater mit Produktionen von der Stange, die das GOP-Theater in sieben Städten der Republik reihum zeigt und die sich hauptsächlich über ein Gastronomiekonzept finanzieren. Für das Walhalla Theater e. V. wäre kein Raum mehr gewesen und anstelle des beliebten Bambi-Kinos hatte der Architektenentwurf ursprünglich eine Toilettenanlage geplant. Die Empörung war groß und die Gruppe „Walhalla Studios“ um Martino La Torre und den Designer Michael Müller entwickelte ein Konzept unter dem Namen „Zurück in die Zukunft“. Das Bambi-Kino und Walhalla Theater e. V. hätten ihre Bleibe behalten. Mehrere Betreiber waren mit im Boot, darunter das Tivoli Theater Hamburg, das Ballhaus Berlin und der Caterer Kofler. Den Verantwortlichen in der Stadt schien dieses Konzept zu riskant, schrieb der Wiesbadener Kurier am 13.02.2017. Am Ende gab es dann gar keinen Plan mehr und das Gebäude wurde vollständig geschlossen. Ein Brandschutz-Gutachten hatte eine „Gefahr für Leib und Leben“ ausgewiesen und der völlige Leerstand seit fünf Jahren beschleunigt den Verfall des seitdem unbeheizten Gebäudes.

 

Wie geht es weiter?

Zum Nutzen der Stadtgesellschaft kann kein alleiniger Betreiber das Walhalla mit einem vorgefertigten Programm bespielen, davon ist der Wiesbadener Kulturbeirat überzeugt. Auch die Stadt hat 2020 die Suche nach einer solchen Lösung aufgegeben.

Jetzt nimmt das Bauvorhaben Fahrt auf; knappe 50 Millionen Euro sind dafür veranschlagt. Im Juli dieses Jahres hat das Stadtparlament Planungsgelder freigegeben. Eigentlich wäre für Sanierung und Umbau des Walhalla die Ausschreibung eines Architekturwettbewerbs geboten -– in Anbetracht der großen Bedeutung des Gebäudes und der Stadt Wiesbaden mit seiner wertvollen historischen Architektur. Weil es jetzt aber eilt, soll in einem Standard-Vergabeverfahren ein geeignetes Architekturbüro gefunden und Anfang 2023 beauftragt werden.

 

Viele Probleme sind noch zu lösen. So müssen Bau und Nutzung jetzt prozesshaft möglichst eng aufeinander abgestimmt werden. Welches künstlerische Profil wird das Haus haben, welches Raumkonzept wird gebraucht, wer wird es nutzen und betreiben? Ungeklärte Fragen, auf die eine Steuerungsgruppe konkrete Antworten sucht. Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende hat diese Gruppe aus Vertreter*innen aus Kulturbeirat, Kulturpolitik, Denkmalschutz, Politik und Verwaltung im vergangenen Mai eingesetzt. Eine Projektleitung, direkt beim Oberbürgermeister angesiedelt, (bei Redaktionsschluss am 5.8.22 war die Ausschreibung noch in Arbeit) soll die Gruppe dabei unterstützen, dem Walhalla der Zukunft ein gutes künstlerisches Profil zu verleihen und ein Raumkonzept zu entwickeln. Dann kann die Vision Wirklichkeit werden, dass sich in ein paar Jahren alle Menschen im Walhalla wohlfühlen, ob beim Breakdance oder Tango, bei einer politischen Diskussion, oder einer spektakulären Performance, bei Kaffee und Kuchen oder im Kino.