Zwei kreative Köpfe

Woran mag es liegen, dass sich der Mainzer Musikprofessor, Barockcellist, Chor- und Orchester- dirigent und Musikpädagoge Felix Koch derart für den Komponisten Georg Philipp Telemann begeistert? Vielleicht ja an einer auffälligen Parallele im künstlerischen Wirken des Früheren und des Späteren – an ihrer Vielseitigkeit.

 

Von Jan-Geert Wolff

 

Über 3.600 Werke für alle (und zwar wirklich alle) möglichen Genres und Besetzungen stammen von diesem 1681 in Magdeburg geborenen Komponisten: Georg Philipp Telemann, der schon als Kind Violine, Flöte und Zither lernte, als Zehnjähriger den Kantor in der Singstunde vertrat und mit zwölf seine erste Oper vorlegte. Ein Jahr später komponierte er Motetten für den Kirchenchor im niedersächsischen Zellerfeld, wohin ihn die besorgte Verwandtschaft geschickt hatte. Der war das Musizieren nicht geheuer und man befürchtete, er werde, so berichtet es Telemann in seiner Autobiografie, „Gaukler, Seiltänzer, Spielmann oder Murmeltierführer“. Wenig später brachte sich der Komponist noch das Spiel auf Cembalo, Oboe, Traversflöte, Gambe, Kontrabass, Bassposaune und Chalumeau – einer Frühform der Klarinette – bei.

 

Zugegeben: So viele Instrumente beherrscht der Herr Professor nicht. Dafür kann er die Menschen, mit denen er Musik macht, begeistern. Und auch große wie kleine Zuhörer: Felix Koch ist für die Kinderkonzerte bekannt, die er als Leiter des Collegium musicum der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität veranstaltet und ganze Grundschulklassen dazu bringt, aufmerksam barocken Klängen zu lauschen. In Coronazeiten hatte er mit Musikerkollegen einen klingenden Online-Adventskalender erstellt und über 70 Schulklassen in Rheinland- Pfalz, Hessen, Sachsen-Anhalt und Bayern verfolgten gespannt das 24- teilige Telemann-Konzert, zu dessen Musik sie sich dann eine Geschichte ausdenken sollten.

 

 

Koch, der von 2018 bis 2020 Mainzer Stadtmusiker war, studiert pro Semester ein sinfonisches Konzert-Programm mit UniChor und UniOrchester des Collegium musicum ein und hat im Frühjahr mit dem Gutenberg- Kammerchor den Messiah von Georg Friedrich Händel für CD aufgenommen. Seit 2011 ist er Professor für Alte Musik an der Hochschule für Musik Mainz und von 2007 bis dahin leitete er das Lehrerfortbildungsprojekt „Primacanta – Jedem Kind seine Stimme“ an der HfMDK Frankfurt. Er ist Initiator und Begründer des renommierten Festivals „Tage Alter Musik im Saarland“ (TAMIS) und Intendant der Internationalen Musiktage Wörrstädter Land vor den (südlichen) Toren von Mainz. War nicht eben schon mal von einem Nine-to-five-Job die Rede? Der würde Koch ebenso wenig ausfüllen wie einen Georg Philipp Telemann.

 

Dem nähert sich der im rheinhessischen Lörzweiler lebende Musiker aktuell von einer auch für ihn ganz neuen Seite: Mit dem Telemann Project widmen sich Felix Koch, sein Barockorchester Neumeyer Consort und die mit nur zwölf professionellen Sängerinnen und Sängern besetzten Gutenberg Soloists bislang unbekannter Kirchenmusik des Magdeburgers, die dieser in den Jahren 1714 und 1715 in Frankfurt schrieb. Dort befinden sie sich auch heute noch, wohl verwahrt in der Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg: Über 800 der mehr als 1.700 Kantaten warten hier auf ihre Wiederentdeckung. 73 davon bilden den„Französischen Jahrgang“.

 

Und genau der hat es Koch angetan: Gemeinsam mit internationalen Partnern, da- runter der australische Verlag Canberra Baroque, das Forum Alte Musik Frankfurt und das Magdeburger Zentrum für Telemann- Pflege und -Forschung, realisieren Koch und seine Musikerkollegen die Weltersteinspielung und Notenedition dieser seit rund 300 Jahren nicht mehr musizierten Musik. Und natürlich ist sie auch regelmäßig in Konzerten zu hören. 30 Kantaten sind bereits aufgezeichnet und die ersten zehn davon im November 2021 beim Label cpo als Doppel-CD erschienen. Weitere werden folgen.

 

 

Was ist nun das Besondere an dieser Musik Telemanns? „Unter anderem nimmt der Chor einen unglaublich großen Teil der Kantate ein. Er singt nicht nur den Eingangschor und den Schlusschoral, sondern ist auch mittendrin immer wieder gefordert – und zwar teilweise hochvirtuos, weil die Stimmen extrem instrumental konzipiert sind. Das gibt es bei Bach in dieser Regelmäßigkeit so nicht“, erklärt Koch. Schließlich fällt einem ja zuerst der Name des Thomaskantors ein, wenn von Kantaten die Rede ist. Rund 200 vorwiegend geistliche und einige weltliche Kantaten sind von ihm erhalten. Die Forschung ist weit fortgeschritten, es liegen mittlerweile mehrere Gesamteinspielungen vor. „Diese Fülle, die gute Katalogisierung und eben auch die Verfügbarkeit führten gerade bei den Kantaten zu einer Bach‘schen Omnipräsenz“, sagt Koch und will nun eine Lanze für Telemann brechen.

 

Dabei gibt es unheimlich viel zu entdecken. Der Beiname „Französischer Jahrgang“ beziehe sich auf die Besetzung nach dem französischen Prinzip: So habe man hier bei über der Hälfte der Kantaten eine Fünfstimmigkeit im Orchester, die mit zwei Bratschen konzipiert ist. „Die Kapelle, für die Telemann die Musik schrieb, war ebenfalls französisch ausgerichtet“, weiß Koch. Zudem war der Komponist ohnehin ein Meister des „gemischten Stils“ und ließ sich dementsprechend inspirieren: „In einigen der musizierten Werke begegnet man richtiggehend französischen Ouvertüren, Tanzsätzen und deutlichen Elementen der französischen Oper, die mit Arien oder Ariosi kombiniert sind.“ Als etwas Spezifisches, das einem gerade in dieser Musik begegne, benennt Koch eine über- große Experimentierfreude und eine große Kunst, diese Ideen virtuos in Musik zu fassen. „Bach zum Beispiel hat immer für große Besetzungen geschrieben, aber Telemann bedient einfach alles: jede Besetzung ausgehend von einer Singstimme plus Basso continuo, dann mit einem Instrument und einer Singstimme bis hin zu voller solistischer wie orchestraler Besetzung und Chor.“

 

Ein besonderes Merkmal der Kantaten Telemanns ist die Vertonung des Textes. „Hier geht es darum, alte Worte und Formulierungen zu verstehen und sie durch die eigene, musikalische Gestaltung letztendlich für den Hörer verständlich zu machen, gleichsam zu übersetzen. Telemann fordert hier unglaublich viel, eben weil er das so unfassbar gut macht“, schwärmt die Mainzer Gesangsprofessorin Elisabeth Scholl, in deren Klasse Mitglieder der Gutenberg Soloists studieren. Zwei ihrer Kollegen sind auf der im Herbst erscheinenden zweiten Doppel-CD hören: Gotthold Schwarz stand als Thomaskantor bis 2021 in der Nachfolge Bachs in Leipzig am Pult und weiß:„Bei Telemann und vielen Komponisten seiner Epoche geht es in besonderem Maße darum, die Stimme zu führen, die Klarheit des Vokals zu bringen, die Konsonanten auch als Auslöser des Klangs zu sehen und dabei Inhalt und Musik in Einklang zu bringen.

 

 

Die Beschäftigung mit dieser Musik hat schon eine besondere pädagogische Wirkung.“ Und der Tenor Hans Jörg Mammel betont: „Mir macht es wahnsinnig viel Spaß, die Sprache zu zelebrieren und bestimmte Worte zu betonen. Denn bei guten Komponisten wie Telemann ist kein Wort und kein Ton irgendwie zufällig.“ Meist stehe alles schon im Notentext und sei allein dadurch schon spannend, weil man eine Geschichte erzählen könne. „Das verändert sich in der späteren Musik, wo eher Klang, Volumen und Dramatik wichtig werden. Dann steht der Künstler im Mittelpunkt, fast schon mehr als die Musik und ihre Botschaft“, sagt Mammel: „Das ist in der barocken Kantate ja genau umgekehrt. Ich stelle mich als Sänger lieber hinter das Werk, will ein Diener der Musik sein. Dazu lädt die Barockkantate geradezu ein.“

 

So sieht auch der Spiritus Rector des Telemann project seine Rolle. Tatsächlich vergeht kein Tag, an dem sich Felix Koch nicht mit den Kantaten des „Französischen Jahrgangs“ beschäftigt. Schließlich ist er als Dirigent einer der ersten, der hört, wie diese Musik klingt. „Vor der allerersten Probe bei diesem Projekt war ich so aufgeregt wie vor keinem Konzert bisher.“ Und von denen hat der 53-Jährige ja nun schon einige gegeben.