Zwischen Hiwwel und Bibel

Ulf Sölter führt das Gutenberg-Museum in die Zukunft

Von Dorothee Baer-Bogenschütz

 

Eine Hiwweltour bestimmte sein Schicksal. Was, bitte? Der Begriff – vernehmlich rheinhessisch – perlt Ulf Sölter von den Lippen wie einem Einheimischen. Schließlich wanderte der sportliche Kunsthistoriker an jenem Oktobertag im vergangenen Jahr nicht zum ersten Mal mit seiner Frau und einem befreundeten Paar durchs herrliche Rheinhessen, wo die „Hiwwel“ – dem Rest der Welt als Hügel geläufig –, gar anmutig in der Landschaft verteilt sind. Nach dem Genuss der Gegend auf Schusters Rappen labte man sich und saß gemütlich beieinander, wie das so Brauch ist in solch kostbaren entschleunigten Momenten. Doch dann zuckte Sölter zusammen: Gedruckte Lettern, wenige nur und weder lyrisch verdichtet, noch mit einem anderen Ziel verbreitet als dem der Bekanntmachung, weckten sein massives Interesse. Sie sollten sein Leben verändern.

 

Dem Freund war eine Stellenanzeige in der Lokalpresse ins Auge gesprungen, die er mit Hintergedanken weiterreichte. Sölter biss erwartungsgemäß an und bewarb sich. Wie passend, dass ihm ein Druckerzeugnis den Weg wies: Seit dem 1. April ist der Nicht-Pfälzer mit der Hiwwel-Passion Chef des Weltmuseums der Druckkunst. Besser bekannt als Gutenberg-Museum. Ja, was denn nun?

 

Mitunter firmiert die weltberühmte Institution auch als Gutenberg-Museum Mainz: schon der marketingrelevanten präzisen Verortung wegen wohl die optimale Variante. Weltmuseum Druckkunst könnte der Zusatz lauten. Das Kürzel GMM – zumindest international geht es ja kaum mehr ohne diese Codes – ist besonders eingängig. (Typo-)Grafisch schick begleitet, könnte das Haus sich bereits durch solche Feinheiten besser einprägen. Verwunderlich, dass dem bislang wenig Bedeutung beigemessen wurde.

 

Angesteuert wird die Stätte der Druckkunst in Gutenbergs Heimatstadt zumeist von Touristen. Der Rhein ist nah, die Schifffahrt – bis zu 800 Schiffsanläufe jährlich – idealer und bester Quellmarkt. Flussreisende nehmen gerne an einer Stadtführung teil, besuchen den Dom und – Sölter spricht von „Trias“ – eben das Druckkunstzentrum. Eine ostasiatische Sammlung, eine japanische Schriftrolle oder koreanische Zeichen finden sich dort unter anderem. Vier Jahrtausende Buch-, Druck- und Schriftgeschichte werden erfahrbar. 91.000 Titel betreut die Bibliothek. Asiaten wie Amerikaner ziehen den Hut vor Gutenberg. Das nach ihm benannte Museum ist ein Highlight ihrer Germany-Agenda. Die Angaben zu den Vor-Corona-Besucherzahlen schwanken freilich erklecklich, zwischen 130.000 und 160.000: In jedem Zeitungsartikel taucht eine andere Zahl auf, wie kann das sein? Dem muss Sölter nachgehen. Zufrieden zeigt er sich, dass sein Haus den größten Zuspruch in der Runde der Mainzer Museen genießt. Eine der Stellschrauben, an der er drehen muss, und zwar dringend – was ihm bewusst ist –, ist gleichwohl die CI. Die Corporate Identity weist Schwachstellen auf. Ausgerechnet ein Druckkunst-Haus tut sich schwer mit der gedruckten Selbstdarstellung.

 

Nicht einmal das Logo wird in verlässlich einheitlicher Form eingesetzt. Fällt das niemandem auf? Dabei macht es etwas her. Die stilisierte schwarze Druckerpresse, die Sölter beibehalten will, was vernünftig ist – „das Logo ist nicht schlecht“ –, ist beispielsweise auf dem Leporello, welches das Veranstaltungsprogramm ankündigt, formal anders gefasst als in den Medienmitteilungen des Hauses. Auf dem Cover der grasgrünen schulheftartigen Broschüre „#drucklust“, die zum Selberdrucken einlädt – Besucher dürfen Hochzeits- oder Visitenkarten drucken –, ist die Presse dagegen so winzig abgebildet, dass sie glatt untergeht wie ein Kiesel im Rhein.

 

Entworfen hat sie, wie das Museum – „Das ist für uns natürlich auch extrem wichtig“ – auf feuilleton-Anfrage herausfindet, der Typograf Hans Peter Willberg in den 1990er-Jahren, der Amtszeit von Gutenberg-Direktorin Eva Hanebutt-Benz. Keine Frage: Mit dem Neubau muss eine Neufokussierung der Eigenwerbung einhergehen, zumal Sölter das Vermittlungsangebot „deutlich ausweiten“ will. Es geht auch um ein Leitbild.

 

Das Riesenkapitel jedoch, das er zu bearbeiten hat, türmt sich vor ihm in Gestalt des Museumsneubaus. Der Bibelturm ist vom Tisch, jetzt müssen – im zweiten Anlauf – rasch Nägel mit Köpfen gemacht werden. Am 5. und 6. Oktober wird der Siegerentwurf gekürt, der über die künftige kulturtouristische Anziehungskraft der Landeshauptstadt wesentlich mitentscheidet. An den beiden Tagen inspiziert ein – inklusive Stellvertretern und Sachverständigen ohne Stimmrecht – rund 20-köpfiges Preisgericht, welche Neubau-Vorschläge rund zwei Dutzend Architekturbüros eingereicht haben. Sölter gehört zum Sachpreisrichter-Quartett. Seine Vorgängerin Annette Ludwig, die das von außen provinziell erscheinende Haus seit 2010 mit allen Kräften ins 21. Jahrhundert führte, ist Stellvertreterin.

 

Nachdem der architektonisch beeindruckende Bibelturm-Entwurf, der ihre Gutenberg-Karriere hätte krönen und Zeichen über Mainz hinaus hätte setzen können, 2018 kläglich gescheitert war, weil die berühmt-berüchtigte Mainzer Stadtgesellschaft nicht mitziehen mochte, muss das Projekt nun eingetütet werden, wenn die Stadt sich nicht lächerlich machen will. Zuversichtlich stimmt sie: Trotz der unglücklichen Vorgeschichte ist das Vorhaben offenbar ungemein attraktiv für die Architekturbüros. Sagenhafte 133 Bewerbungen waren eingegangen, wobei die Anteile nationaler und internationaler Beteiligung nicht eigens ausgewertet wurden. Zu viele Büros waren es de facto. Die Bewerberzahl musste per Losentscheid auf 25 eingedampft werden.

 

Vorgegeben waren im Auslobungstext Nettoraumgrößen als Richtwerte für den Entwurf. Insgesamt kalkuliert das 80-Millionen-Euro-Vorhaben mit etwa 8.000 Quadratmetern. Für den Ausstellungsbereich sind rund 2.500 Quadratmeter vorgesehen, davon 1.600 für die Dauerausstellung, 300 für die Schausammlung und 400 für die Sonderausstellung: nur etwa doppelt so viel Fläche wie für das Kindermuseum reserviert ist, das 180 Quadratmeter beansprucht. Die Schatzkammer soll 50 Quadratmeter bekommen. Bibeln und Inkunabeln zählen zu den Juwelen des Museums, darunter zwei 42-zeilige Original-Gutenberg-Bibeln aus der Mitte des 15. Jahrhunderts.

 

Der 1960er-Jahre-Bau am Liebfrauenplatz, nach seinem Baumeister Schell-Bau genannt, genügt den aktuellen Anforderungen schon lange nicht mehr. Noch bis Ende kommenden Jahres wird er bespielt, dann kommt die Abrissbirne. Das Gutenberg-Museum besteht aber aus vier Gebäude(teile)n; die drei Annexgebäude müssen saniert werden. Das jüngste entstand im Jahr 2000. Die historischen Gebäude – zwei ehemalige Hotels – dürften in der Außendarstellung stärker in Erscheinung treten.

 

Das Haus „Zum Römischen Kaiser“, vormals „Zum Marienberg“, ist ein Spätrenaissancebau, errichtet in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts für den Kaufmann und kurfürstlichen Rat Edmund Rokoch, und der erste größere Neubau in Mainz, nachdem der Dreißigjährige Krieg die Stadt zerstört hatte. Mit seiner aufwendigen Fassade war das Gebäude das reichste Bürgerhaus und Vorbild für Prachtbauten des Kurmainzer Adels. Im 18. Jahrhundert empfing es Übernachtungsgäste als Hotel „Zum Römischen Kaiser“. Unter den illustren Persönlichkeiten: Goethe, Mozart oder Voltaire. Heute beherbergt das kaiserlich benannte Gebäude – von innen weniger schmuck als seine Geschichte es vermuten lässt –, die Museumsverwaltung, die Restaurierungswerkstatt, den Sitz der Gutenberg-Gesellschaft sowie die Stadtschreiberwohnung. Das im Jahr 1900 von Bürgern gegründete Gutenberg-Museum war 1930 eingezogen. 32 Jahre später verantwortete Rainer Schell den Erweiterungsbau, der nunmehr, nach sechs Jahrzehnten, seinerseits ausgedient hat.

 

Etwa 150 Jahre älter als das Haus „Zum Römischen Kaiser“ ist das Hotel „Schwan“: verbunden mit der Jahreszahl 1496, doch ist dieser Hinweis nicht dokumentiert. Fakt ist: Es ist eines der ältesten Zeugnisse der historischen Platzbebauung. Jetzt fanden darin ukrainische Flüchtlinge ein temporäres Zuhause. Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, hat dieses Gebäude nicht mehr gesehen. Er wurde um 1400 in Mainz geboren.

Was passiert während der um- und neubaubedingten mehrjährigen Schließung des Museums? Die Präsentation wird naturgemäß sehr ausgedünnt. Am Interimsstandort im Naturhistorischen Museum in der Reichklarastraße könne man nur knapp zehn Prozent der Schätze zeigen, so Sölter. Von der Idee, einige auf Welttournee zu schicken, ist man abgerückt. „Mit Gutenberg in die Zukunft – Schlaglichter einer Medieninnovation“ lautet der pfiffige Titel der Ausstellung, die im Ausweichquartier von Ende 2023 bis zur geplanten Wiedereröffnung Anfang 2026 eingerichtet wird. Unterdessen muss im Hintergrund kaum weniger gerackert werden als auf der Großbaustelle.

 

Die Digitalisierung sei ein zentraler Aspekt, sagt Sölter, „bei der Digitalisierung des Bestands stehen wir erst am Anfang“. Es klafften „große Lücken“. Doch auch analog müssen die Bestände zügig weiter erschlossen werden. Erst unlängst entzückte ein mittelalterlicher Pergamentfund mit wunderschönen Initialen in einer bis dahin unbeachteten Schachtel. Es gibt viel Nachholbedarf bei den „musealen Basisarbeiten“. Sölter spricht von einer Herkulesaufgabe. Neuland ist die intensive Beschäftigung mit der Buchdruckkunst allerdings nicht. Sölter promovierte über den Mannheimer Verleger Anton von Klein, war immer schon verlagsgeschichtlich interessiert: „Dem Thema bin ich treu geblieben.“

 

Unterm Strich ist es sein Job, das Gutenberg-Museum „neu zu erfinden“. Er will das Haus nicht nur in der „musealen Landschaft Europas“ verankern. Nicht zuletzt erfordere der neue „globale Anspruch eine neue strategische Ausrichtung“. Kein Marketingsprech, sondern nackte Notwendigkeit. Immerhin: “Wir sind durchfinanziert“, sagt der Mann, für den es die zweite Museumsdirektorenstelle ist. Seit Sommer 2019 war er Chef des Gustav-Lübcke-Museum in Hamm, zuvor stellvertretender Leiter des Clemens Sels Museums in Neuss. Die Mainzer Kulturdezernentin Marianne Grosse freut sich über „einen echten Museumsexperten”. Das war Annette Ludwig natürlich auch, und Unechtes hätten wir ohnedies in Mainz niemals vermutet.

Sölter nennt sein neues Umfeld eine “Region, in der ich mich sehr zuhause fühle”. Groß geworden ist er am Rhein in Bad Honnef und findet: „Das fühlt sich ähnlich an”. Im Interview verrät er: „Der Fluss gibt mir viel und die Region auch.” Für das Museum wirbt er etwa auf der Kunstmesse Art Karlsruhe, denn Kunst ist ein Standbein, man denke nur an das weite Feld der Druckgrafik. Der aktuellen Stadtdruckerin Veronika Weingärtner ist demnächst eine Ausstellung gewidmet.

 

Auf Frankfurts Messegelände müsste man unterdessen den Namensgeber des Mainzer Museums im Oktober für einige Tage nonstop besingen: Ohne Gutenberg, der Bücher erschwinglich machen half und Lesen für alle zur Option, gäbe es keine Buchmesse. Zu den prominenten Museumsbesuchern zählen royale Gäste – just für Anfang Oktober hat sich wieder einmal ein hochgestelltes Paar angekündigt –, neben Berühmtheiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur, unter ihnen George W. Bush, Michail Gorbatschow oder Helmut Kohl. Auch Umberto Eco der Verfasser von „Der Name der Rose“ nahm sich Zeit für eine Visite sowie die Schauspielerin Hannelore Elsner. Die Queen und ihr Prinz waren am 23. Mai 1978 auf Bibel-Tour. Die Sonderschau „Hotspot Gutenberg-Museum – Hoher Besuch in Rheinland-Pfalz“ erinnert ab dem 29. November auch an diesen Besuch. Sie erschließt fürs breite Publikum das Gästebuch des Museums mit seinen zahlreichen Einträgen, lässt die vergangenen 60 Jahre Revue passieren, ist quasi der Abgesang auf den Schell-Bau. Sölter formuliert es süffiger, bezeichnet die Schau als Digestif. Leider bekommt das Publikum aber wohl kein Rheinhessen-Schnäpschen gratis dazu.

 

Oberstes Ziel der Ausstellung ist es, Interessierte an der Geschichte des Hauses „partizipieren“ zu lassen, ein Wort, das heute in alle Kuratoren-Munde muss. Im Falle des Gutenberg-Museums gehört die Partizipation zur DNA. Es muss bloß einladender auftreten. Handwerkliche Fundamente wie der Druckprozess sollen sinnlich besser wahrnehmbar werden. Es gebe Ausbaupotential, so Sölter, der im Nu Sympathien sammelte. Wer im Haus fragt, wie der neue Chef ankommt, erntet ein Strahlen. Ein wichtiger Punkt, denn das Betriebsklima darf keine Baustelle sein. Vor Sölter liegen zu viele andere. Die Trägerschaft etwa steht ebenfalls zur Debatte. Das Gutenberg-Museum ist ein städtisches. Müsste nicht auch der Bund ins Boot?

An Sölter, der einen Fünfjahresvertrag hat, hängt jetzt alles. Wo er Inspiration findet und Kraft tankt? Wir ahnen es. Wie gut, dass sich der 50-Jährige auf Hiwweltouren topfit hält.