Das Theater der Zukunft

 

Foto: Ullrich Knapp

Die nächste Ausgabe der Wiesbaden Biennale soll im September 2022 an elf Tagen über die Bühne gehen. Kilian Engels heißt ihr neuer Kurator. Mit uns sprach er über seine Pläne, das Theater in pandemischen Zeiten, den öffentlichen Raum und die Biennale als Publikumsfestival.  

von Shirin Sojitrawalla

 

Kilian Engels, geboren 1978 in Bad Godesberg, studierte Philosophie und Literaturwissenschaften in Bonn und Oxford. Von 2005 bis 2019 leitete er das Münchner Festival Radikal jung. Von 2006 bis 2014 und von 2018 bis 2020 war er Chefdramaturg am Münchner Volkstheater, von 2014 bis 2018 stellvertretender Direktor der Otto-Falckenberg-Schule. Er arbeitete außerdem für die Salzburger Fest­spiele, die Mülheimer Theatertage und die Bonner Biennale.


feuilleton : Herr Engels, das ist eine schöne Aufgabe, die Sie da übernommen haben! 

 

Kilian Engels: Ja, das ist eine schöne Aufgabe und auch eine Herausforderung! Es ist nicht ganz leicht nach Maria Magdalena Ludewig und Martin Hammer, die beiden haben 2018 ganze Arbeit geleistet. Das Branding der Biennale als „freche kleine Schwester der Maifestspiele“ hat sensationell gut funktioniert und ist noch sehr präsent in den Köpfen. Damit muss ich mich jetzt auseinandersetzen.

 

Sie sind mitten in der Vorbereitung, nehme ich an? 

 

Ich bin froh, dass man wieder reisen kann. Ich war in Frankreich und der Schweiz, in Österreich. Ich komme gerade aus Berlin, bin morgen in Köln, dann wieder in Berlin, dann bei der Ruhrtriennale, Ende der Woche in Groningen und Zürich, nächste Woche in Rotterdam. Ich hoffe, dass die USA und Israel bald wieder öffnen. Ich versuche so viel zu sehen, wie ich kann. 

 

Weil Sie Angst vor der vierten Corona-Welle haben? 

 

Ja, ich fürchte, dass es im Herbst wieder zu Schließungen kommt. Ich hoffe es natürlich nicht, aber ich bin nicht optimistisch. Das heißt für mich: Ich muss jetzt möglichst viel sehen. Ansonsten habe ich viel online gesichtet. Das ging problemlos, weil viele Festivals ganz schnell auf digitale Angebote umgestiegen sind. Und ich bin im Gespräch mit Agenturen und Künstlern und Künstlerinnen und habe auch schon Sachen vereinbart, Koproduktionen etwa. Alles in allem bin ich aber noch relativ weit davon entfernt, sicher sagen zu können, was kommt und was passieren wird. Das liegt auch an der aktuellen Corona-Situation. 

 

Ein bisschen was müssen Sie verraten.

 

Ich habe mir fest vorgenommen, das Große Haus zu bespielen. Bei der letzten Biennale wurde es ja zum Autokino umfunktioniert. Ich möchte wieder mit relevanten, großen Arbeiten dort präsent sein. Das ist mir unglaublich wichtig. Im Kleinen Haus möchte ich interessante jüngere Leute vorstellen und im Studio den Nachwuchs.

Mit welcher Art von Theater? 

 

Ich versuche, nicht zu theatrig zu werden, sondern den Theaterbegriff so weit wie möglich zu fassen. Mit der richtigen Rahmung kann man ja praktisch alles als Theater betrachten. Und das würde ich auch so handhaben wollen. Viele Arbeiten kommen aus dem Grenzbereich zur bildenden Kunst. Die wird immer performativer. Wenn man sich anschaut, wer in den letzten Jahren bei großen Kunstfestivals Preise gewonnen hat, dann waren das oft solche Arbeiten. Von daher passt das gut. Bei den Kunstschaffenden, mit denen ich in Kontakt bin, lässt sich da eh keine Grenze mehr ziehen.

Foto: Ullrich Knapp


Die Arbeiten werden also wieder genreübergreifend sein.

 

Idealerweise sollen sie die Grenzen ihres Genres überschreiten. Ich möchte aber nicht nur spartenübergreifende Arbeiten zeigen, sondern solche, die man gar nicht mehr zuordnen kann, wo Grenzen zu den Schwesterkünsten keine Rolle mehr spielen, die quasi ihre eigene Kunstform sind. Dabei möchte ich eine größtmögliche Vielfalt an Formen und Zugriffen präsentieren. Und es wäre mir unglaublich wichtig, eine jüngere Generation zu zeigen, das hat auch mit meiner Geschichte zu tun. Ich habe 15 Jahre ein Festival gemacht hat, bei dem es um den Nachwuchs geht. 

 

Das Münchner Festival für junge Regie „Radikal Jung“, das Sie bis 2019 geleitet haben.

 

Genau. Ich probiere also, ganz zeitgemäße Formen und Inhalte zu zeigen. Es wird vielleicht noch den einen Abend Theater mit Regie, Schauspiel und einem literarischen Text im Programm geben. An allen anderen Abenden spielt genau das alles keine Rolle mehr, weil Autorschaft und Regie anders gedacht werden. Es geht auch darum, das Theater der Zukunft zu denken. 

 

Welches Publikum möchten Sie ansprechen? 

 

Ich versuche ein Programm zu machen, das alle Interessierten anspricht, wenn sie ein bisschen Neugier mitbringen. Ich möchte auf keinen Fall jemanden ausschließen oder vor den Kopf stoßen. Ich versuche, ein Programm speziell für Wiesbaden zu machen und mit dem, was die Stadt vorgibt, umzugehen. Es gibt hier beispielsweise die große US-Army-Base oder eben die Fluxus-Vergangenheit. Ich als Bonner hatte Fluxus immer mit Köln und Düsseldorf assoziiert und war dann überrascht, dass es in Wiesbaden entstanden ist. In Litauen hingegen ist Wiesbaden fester Teil der nationalen Kunstgeschichte, wegen Fluxus-Gründer George Maciunas, einem Amerikaner mit litauischen Wurzeln, der in Wiesbaden bei der Army gearbeitet hat. 

 

Wird es ein Motto geben? Das der letzten Biennale lautete „Bad News“.

 

Ich probiere noch kein Thema oder Motto zu setzen. Ich versuche mich an einer Erzählung unserer heutigen Welt.

 

Werden Arbeiten aus der ganzen Welt gezeigt? 

 

Es ist ein internationales Festival, und da kann man wunderbar unsere deutschen Maßstäbe hinterfragen. Hier ist man sehr in der Regietheater-Tradition verhaftet, zumindest in den Staats- und Stadttheatern. In der Form gibt es das in den wenigsten anderen Ländern. Mich zieht es bei meinen Reisen in liberalere Länder mit nicht so starker Tradition, die im Ruf stehen, innovativere Formate zu entwickeln, wie etwa die Schweiz oder die Benelux-Staaten. Ich probiere aber auch, über das Europäische hinauszugehen und Arbeiten aus der ganzen Welt einzuladen, soweit das in der aktuellen Situation klappt. Ich bin etwa in Verhandlungen mit Südafrika, das momentan aber noch Virusvariantengebiet ist. Ich hoffe, dass sich das bis dahin gegeben hat. 

Foto: Ullrich Knapp

Und wenn nicht? 

 

Falls ich das nicht schaffe mit dem Internationalen, versuche ich das mit der Diaspora (Menschen, die ihre Heimat verlassen haben) abzudecken, so dass wir auf jeden Fall viele Gäste mit ganz vielen verschiedenen Hintergründen da haben werden. Es gibt ja genügend Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt, die mittlerweile von Europa aus arbeiten, obwohl sie dort nicht geboren sind.

 

Wird es wieder Arbeiten im öffentlichen Raum geben?

 

Die werden bei mir keine so große Rolle spielen. Das hat unterschiedliche Gründe, auch Geldgründe. Bei der Biennale 2018 gab es ja dieses Nachnutzungskonzept, Stichwort Autokino und Pop-Up-Supermarkt im Foyer.


Und die Bespielung der City-Passage...

 

Genau. Das war 2018 und passte in jene Zeit. Jetzt sind wir in einer vollkommen anderen Situation und ich versuche vor dem Hintergrund dieser Corona-Pandemie den Standort zu stärken, und das Staatstheater wieder ins Zentrum des Festivals zu stellen. Ich habe die Räume, kann sie nutzen, deswegen gehe ich auch in diese Räume.

 

Großes Haus, Kleines Haus, Studio, Wartburg? 

 

Ja. Und ich versuche gerade noch, ein zwei Sachen in den Kurpark zu bringen.

 

Die Bespielung des öffentlichen Raumes war ein Herzstück der Biennale.

 

Ja, der Biennale 2018. Aber es war auch eine Entwicklung. 2016 hat bei der Biennale auch viel im Staatstheater stattgefunden. Ich gehe jetzt auch wieder in diese Räume, und vielleicht ja 2024 ganz woanders hin.

 

Das heißt es gibt jetzt einen richtigen Bruch, eine Zäsur. Die nächste Biennale wird ganz anders als die 2018er?

 

Ich kann die Biennale von 2018 nicht wiederholen. Auch wegen ihres Erfolges. Ich muss das anders aufstellen, damit es weitergeht. Die Biennale 2018 war auch sehr stark durch das Kuratorenteam geprägt. Ich persönlich bin handwerklich nicht so geschickt, und die Vorstellung, mit einem Vorschlaghammer Wän­de in leerstehenden Geschäftsräu­men einzureißen, schreckt mich eher ab. 

 

In einem Interview haben Sie gesagt, dass Sie sich das mit der goldenen Erdoğan-Statue, die bei der letzten Biennale auf dem Platz der Deutschen Einheit stand, nicht getraut hätten. 

 

Ja, das habe ich so gesagt. Also, ich traue mich einiges, aber ich hätte das nicht gemacht. Ich finde, dass man sich damit über andere Leute erhebt. Ich habe überhaupt kein Problem damit zu provozieren, aber es kommt darauf an, aus welcher Position heraus man das macht. Für mich war das wie ein Brandsatz, dem man in eine eh schon zerrissene, gespaltene und marginalisierte Community wirft. Ich würde mich eher gegen vermeintlich etabliertere gesellschaftliche Postionen richten wollen. 

 

Zum Beispiel? 

 

Mich interessiert etwa die Geschichte dieses Theaters, das von einem deutschen Kaiser hingestellt wurde, der von britischen Historikern gerne mit Donald Trump verglichen wird. Zu einer Zeit, die der Höhepunkt der deutschen kolonialen Ambitionen war, zu einer Zeit, als deutsche Truppen in Afrika einen Völkermord verübten, der uns bis heute beschäftigt. Ich lebe in München, und da lernt man schnell, dass es keine unschuldige Architektur gibt. Im direkten Umfeld des Theaters haben in der Kaiserzeit und in der Nazizeit große Kolonialausstellungen stattgefunden. Es gibt in Wiesbaden soweit ich weiß noch keinen postkolonialen Stadtspaziergang, aber eine Stanley-, Nachtigal-, und Nettelbeckstraße, benannt nach zentralen Akteuren der Kolonialisierung. Wenn man jetzt wie ich ein internationales Festival macht, muss man sich damit auseinandersetzen. Das ist ein Ball, den ich nicht liegen lassen darf. Da müsste man mit einem breiten Bündnis verschiedener postkolonialer Interessensgruppen und vielleicht der Landeszentrale für politische Bildung was draus machen.

 

Klingt interessant. Sie weiten den Fokus von Europa auf die ganze Welt. 

 

Ich möchte globaler werden in dem Sinne, wie auch unsere Gesellschaft eine globalere ist. Ich erlebe Wiesbaden als eine sehr, sehr schöne, aber auch sehr bürgerliche Stadt, vielleicht auch als eine sehr weiße Stadt. 

 

Sie kennen die Stadt schon länger, wie würden Sie sie jemanden beschreiben, der sie nicht kennt? 

 

Das muss ich gerade ganz oft. Standardmäßig sage ich, das ist der Ort, wo „Der Spieler“ von Dostojewski spielt und weise auf die örtliche Nähe des Theaters zur Spielbank hin. Und dann natürlich das 19. Jahrhundert und Wiesbaden als „Spa-Town“ (Stadt der Thermen). Das Übliche halt. Meistens schicke ich dann noch ein Foto des Foyers, das fast immer auf große Begeisterung trifft.

 

Sie haben in besagtem Interview davon gesprochen, dass die Biennale ein Publikumsfestival sei.

 

Das hätte ich gerne. Ich habe diesen niedrigschwelligen Anspruch: Unabhängig von Bildungsabschluss und Herkunft sind alle willkommen. Das wäre mein Wunsch. Mal sehen, ob das funktioniert. Ich versuche, im Großen Haus Angebote zu machen, die wirklich alle erreichen. Je kleiner der Raum, desto spezieller können die Sachen sein. Das ist eine Mischkalkulation. 

Was erreicht denn alle? 

 

Gute Frage. „Alle“ meine ich nicht populistisch, sondern im Sinne von Diversität. Also: vielleicht keine so stark sprachbasierten Arbeiten. Vielleicht nicht unbedingt literarische. Solche, die vielleicht ohne viel bürgerliche Vorbildung zugänglich sind? Und es ist natürlich entscheidend, wer auf der Bühne steht.

 

Inwiefern wird sich Ihre Biennale noch von den Maifestspielen unterscheiden, die ebenfalls zeitgemäße internationale Produktionen im Großen Haus oder Projekte der Freien Szene zeigen? 

 

Trennschärfe ist mir da sehr wichtig. Um jetzt nicht zu sehr in die formalen Details zu gehen: Mit den Maifestspielen kann man ja wohl „auf des Kaisers Spuren wandeln“. Die Biennale müsste dann wohl eher des Kaisers Alptraum sein.

 

"Unabhängig von Bildungsabschluss und Herkunft sind alle willkommen. Das wäre mein Wunsch."


Noch befinden wir uns in pandemischen Zeiten. Gehörten Sie eigentlich auch zu denjenigen, die sich geärgert haben, dass die Theater als nicht systemrelevant erachtet wurden? 

 

Ich bin da durch verschiedene Stadien gegangen, wie wahrscheinlich alle von uns. Wir leben nun einmal für das Theater. Und es ist unglaublich frustrierend, wenn man das, was man machen will, nicht machen kann. Zudem fühle ich mich in einem Theatersaal, egal wie vollbesetzt der ist, mit einer Maske sicherer als in der Außengastronomie, wo viel los ist. Die Sicherheitskonzepte im Theater funktionieren, in großen Münchner Biergärten empfinde ich sie als äußerst fragwürdig. 

 

Wie lange läuft eigentlich Ihr Vertrag?

 

So lange wie der des Inten­dan­ten Uwe Eric Laufenberg, bis 2024. 

 

Apropos Publikumsfestival: Wird es wieder ein Festivalzentrum für Party und Gespräch geben? 

 

Unbedingt! Es muss einen Ort des Austausches geben. Das ist ganz wichtig. Sowohl für die Gäste als auch für das Publikum. Das macht geradezu den Reiz eines großen Festivals aus.