Abgesang auf ein mürbes Staatswesen

Katerina Poladjan erhält für ihren Roman „Zukunftsmusik“ den Rheingau- Literatur-Preis 2022. Eine Würdigung von Dr. Viola Bolduan.

 

Von Dr. Viola Bolduan

 

„Wer ist gestorben? Sie spielen Chopin.“ Wann immer ein Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion diese Welt verlässt, erklingt der Trauermarsch im Radio und er sachte in zuverlässigem Rhythmus durch Katerina Poladjans neuen Roman „Zukunftsmusik“. Jemand hat den Toten persönlich gekannt und erinnert sich an einen Abend mit ihm auf der Krim. Seit dem 24. Februar 2022 herrscht Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Und im Februar ist auch Katerina Poladjans Roman bis in die 3. Auflage im S. Fischer-Verlag (Frankfurt) herausgekommen. Am 25. September wird Katerina Poladjan für diesen Roman der Rheingau-Literatur-Preis 2022 verliehen.

 

Der besondere Geschmack von 111 Flaschen Riesling

 

Das Literatur-Festival ist seit 1993 eine Schwester des Rheingau-Musik-Festivals und findet als Literatur-Lesereihe zur Weinlese-Zeit September im Rheingau statt. Den Abschluss bildet die Preisverleihung – seit 2013 auf Burg Schwarzenstein in Geisenheim-Johannisberg. In seiner Dotierung ist dieser Preis eine Spezialität: Neben den ausgelobten 11.111 Euro stehen den Preisträgerinnen und Preisträgern 111 Flaschen feinsten Rheingauer Rieslings zu. Einen ausgewiesenen Biertrinker wie Clemens Meyer hatte das 2006 in Verlegenheit gebracht, manch neue Freunde aber auch dazu gewonnen. Die prämierten Schriftstellerinnen der vergangenen drei Jahre, Dörte Hansen, Annette Pehnt und Judith Hermann, wussten freilich um den Geschmack der Ehre, der in diesem Jahr Katerina Poladjan zukommt. Die 51-jährige Autorin ist in Moskau geboren. Geht denn das in diesem Jahr, da Russland Krieg gegen die Ukraine führt? Eine Auszeichnung an eine aus Russland stammende Schriftstellerin? Die Jury hat erstaunt nur kurz aufgeblickt: „... aber natürlich“. Und Jury-Vorsitzender Andreas Platt- haus (FAZ) erklärt: „Katerina Poladjan ist längst deutsche Staatsbürgerin, weil sie schon als Kind hierherkam. Außerdem entstammt sie väterlicherseits einer armenischen Familie. Was bedeutet schon in diesem Vielvölkerstaat ein russischer Geburtsort? Aber selbst wenn: Für den Preis ist die Qualität des Buchs entscheidend.“

 

 

Leben in einer Kommunalka

 

Und sie bemisst sich bei „Zukunftsmusik“ an der Art der Darstellung eines einzigen Tages, des 11. März 1985, in einer Kommunalka in einer fern von Moskau gelegenen sibirischen Stadt. An diesem 11. März stirbt der russische Staatschef Konstantin Tschernenko. Sein Nachfolger im Roman nie genannt – wird Michail Gorbatschow heißen. Chopins Trauermarsch gilt dem Toten und intoniert mit dem Abgesang auf ein müdes und mürbes Staatswesen zugleich eine zarte Zuversicht auf die Zukunft. In der Kommunalka leben sechs Mietparteien in kleinen Zimmern, die sich Küche und Bad zu teilen haben. Ein arbeitsames Zugschaffner-Paar, ein spleeniger Professor, ein sich schuldig fühlender Ingenieur und eine Frauen-Familie, bestehend aus Großmutter, Mutter, Tochter und deren kleinem Mädchen. Im Mittelpunkt steht die 20-jährige Janka, Glühbirnenfabrikangestellte, die gegen den herrschenden bleiernen Konformismus anraucht, ansingt und am Abend ein Pop-Konzert auf der Gitarre geben will. Die Gitarre aber fehlt, wie so vieles in dieser zusammengewürfelten Gemeinschaft unterschiedlicher Typen zwischen Tapferkeit und Verrücktheit. „Mit ‚Zukunftsmusik‘ ist Katerina Poladjan ein vielstimmiges Gesellschaftsporträt gelungen“ lobt die Jury. Damit findet sich der Roman wieder in der literarischen Tradition Russlands und bekräftigt sie durch Rekurse auf Vorgänger- Kollegen, wie Tschechow, Turgenjew, Bulgakow.

 

Möglichkeit der Literatur

 

Durch den Roman hindurch schwingt leise Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Sie hat sich für das Land und für ganz Europa als trügerisch erwiesen. Inwiefern aber kann Literatur dennoch über politische Realität hinauswachsen? Jury-Vorsitzender und Leiter des Rheingau-Literatur- Festivals Andreas Platthaus: „Literatur kann ohne Rücksicht auf realpolitische Interessen erzählen, wie sich Dinge verhalten. Deshalb bleibt sie leider auch meist unmittelbar folgenlos. Aber wenn Literatur ein langsames Umdenken in Gang bringt, das dann irgendwann wieder in Realpolitik mündet, hat sie mehr als genug geleistet“. Preisträgerin Katerina Poladjan hat den Beitrag geleistet, wenn ihre „Zukunftsmusik“ aufmerksam gelesen wird.

 

Informationen auf: www.rheingau-musik-festival.de