Von wegen Basteln!

Handwerk, Kunsthandwerk, Kunst – wo verlaufen da eigentlich die Grenzen? Eine schwierige Frage. Fest steht: aus dem Nichts ein „Etwas“ zu schaffen, ist der Ursprung jeder Kunst. Wir wollen in loser Folge kreative Geister aus dem Rhein-Main-Gebiet vorstellen, die es drängt, sich gestalterisch auszudrücken und etwas Neues, Ungewöhnliches zu schaffen.

 

Von Sabine Hampel

 

Ob es Kunst ist? Keine Ahnung! „Weg“ sollte es aber auf keinen Fall. Denn dann wäre die Welt ein Stückchen ärmer.... 

Wenn die Sektkorken knallen, gibt’s für die meisten Menschen was zu feiern. Für Elke Schirmer bedeuten knallende Sektkorken: es gibt Arbeit. Auf dem Wohnzimmer-Tisch der Wiesbadenerin türmen sich Haufen kleiner Drahtgebilde. Weihnachten, Silvester und Fastnacht – Krise hin oder her – haben mal wieder ordentlich die Sekt-Korken geknallt. Was übrig bleibt außer Altglas landet gerne mal bei Elke Schirmer. „Agraffen“ heißen diese kleinen Metallgestelle, die den Sekt-Korken in der Flasche halten.

 

Wer einmal gesehen hat, was in den Händen der 80-jährigen Dame aus den kleinen Drahtbügeln entsteht, wird sie nie wieder achtlos in den Hausmüll werfen. Über 1000 Miniatur-Stühle hat Elke Schirmer in den letzten fünf Jahren aus diesen Metalldingern gefertigt. Und wer jetzt meint, das sei so ein bisschen dahingebastelt und -gebogen, dem sei ein genauer Blick auf die Mini-Stühle empfohlen

 

 

Stühle? Kleine Kunstwerke sind es – da gibt es zickige Exemplare mit gefährlichen Stacheln, weich gepolsterte Modelle, bei denen ein Küchenschwamm für Sitz-Komfort sorgt, die zart Besaiteten kommen mit filigraner Spitze daher, die Sportlichen sind mit maritimem Segeltau bespannt, bei den Brandgefährlichen sorgen Streichhölzer für Nervenkitzel, während in den konstruktiven Varianten ein Legostein verbaut ist. Bestrickend ist das in Wolle gekleidete Modell, eher sachlich, aber dafür elastisch, das Sitzmöbel mit Gummiringen. Ein Stuhl-Snob, fast schon ein Thron, kapriziös mit Perlen dekoriert, steht Stuhlrücken an Stuhlrücken mit einem eher zugeknöpften Modell, in dem Wäscheknöpfe verarbeitet sind. Und wer‘s gern verdreht hat: ein Exemplar mit Schrauben gibt’s auch.

 

Jeder Stuhl eine kleine Persönlichkeit, sehr eigen und absolut unverwechselbar. Wie eine adlige Hofgesellschaft stehen sie da beieinander, die Stühle von Elke Schirmer. Aufgeputzt, reich dekoriert, höchst individuell zurechtgemacht, in großer Abendtoilette. Fast meint man, sie miteinander tratschen zu hören.

 

Ein intimes, ja fast schon familiäres Verhältnis hat die Herrin der Stühle zu ihren Werken: „Das sind alles meine Kinder. Alle werden geliebt, auch die hässlichen.“ Wobei: wirklich hässlich ist kein einziger, egal, ob das Grundgestell, also die Agraffe, gold-, silber- oder rostfarben war. Doch die Stuhl-Kreationen haben sich im Laufe der Zeit verändert: immer ausgefuchstere, verwegenere und luxuriösere Unikate entstanden.

 

Wie kommt man dazu, ein banales Wegwerfteil wie den Verschluss einer Sektflasche so zu adeln? An einem innigen Verhältnis zu Schaumwein kann es schon mal nicht liegen: Sekt trinkt Schirmer schon länger nicht mehr. Doch die Kreativität ist ihr in die Wiege gelegt. In einem kleinen Ort bei Halle während des 2. Weltkriegs geboren entwickelt Elke schon als Kind ein Auge für Schönes und Ungewöhnliches: Spinnennetze im Keller seien ihre ersten Fotomotive gewesen, erinnert sich die 80-jährige. Später, dann schon in Westdeutschland, beendet sie eine Fotografenlehre. Zehn Jahre danach folgt eine Ausbildung an der Meisterschule für Fotografie in Hamburg.

 

An der Uniklinik in Mainz findet Elke Schirmer schließlich einen Job als Fotografin, in Wiesbaden den Mann ihres Lebens. Der ist Zahnarzt und unterstützt die kreativen Ideen und den Gestaltungswillen seiner Frau. Nach dem frühen Tod ihres Mannes arbeitet Elke Schirmer mehr und mehr als freiberufliche Fotografin. Und auch geographisch zieht es die umtriebige Frau zu neuen Ufern: als Backpackerin reist sie weltweit, bestaunt die Fidji- und Galapagos-Inseln, taucht im Great Barrier Reef, er- und überlebt Papua-Neuguinea, alleine reisend, bewaffnet nur mit ihrem Mut, ihrer Abenteuerlust und ihrer Kamera. Fernreisen wie diese sind ihr mittlerweile zu anstrengend. Aber bis heute bleiben Kunst und Kultur „Rettungsanker“ für die weltoffene Fotografin. In Galerien, Museen und Ausstellungen behält sie die Kreativ-Szene im Auge, wird Mitglied im Verein „Freunde des Museums Wiesbaden“ und betrachtet die Welt und die Dinge darin immer mit der Frage: „Was kann ich daraus machen?“ Davon erzählt auch Schirmers Wohnung: überall großformatige Fotografien, Mobiles, Papierobjekte und Wandskulpturen. Alles Zeugen bestimmter Gestaltungsphasen. Und seit ein paar Jahren nun eben die „Stuhl-Phase“. Genau 1006 Stuhl-Exemplare gibt es mittlerweile. Sie alle warten, sorgsam fotografiert und nach einem komplizierten System archiviert und beschriftet, in Plastikcontainern auf ihren großen Auftritt. Den gab‘s schon mal, beim Sekt-Hersteller Henkell in Wiesbaden-Biebrich.

 

Aber eigentlich hat Elke Schirmer mit ihren „Kindern“ ja anderes im Sinn. In einem Buch sollen sie verewigt werden – so eine Art „Stuhlshow“ mit Fotografien ihrer Werke und kleinen Gedanken oder Storys rund ums Thema Stuhl. Einmal möchte sie ihre „Stuhl-Kinder“ komplett in der Öffentlichkeit präsentiert sehen. Die Museumsmacher des Heidelberger Stuhlmuseums haben zugesagt. Eine Ausstellung dort, das wird der Ritterschlag für die Miniatur-Möbel – Große Bühne für die kleinen Originale. Die Zickigen, die Zarten, die Verwegenen und die Rauhbeine im angemessenen Rahmen, danach soll die gesamte Kollektion versteigert werden – für wohltätige Zwecke.

 

Bleibt eine Frage: „Was ist das genau, was Sie da treiben, Frau Schirmer? Hobby, Kunst, Handwerk, Kunsthandwerk?“ Doch schon beim Fragen kommt mir die Antwort: eigentlich muss man es gar nicht benennen. Hier entsteht aus etwas Nützlichem etwas Schönes. Wie schön!

 


... und hinterm Sofa lauert das Krokodil

Was macht dieses brav-spießige Biedermeier-Sofa mitten im Dschungel? Und warum steht eine junge Dame in Omas Unterwäsche auf der Lehne des Möbels und taucht offenbar gerade in die Fluten eines Meeres, das aber nur in einem Spiegel zu sehen ist? Vielleicht ja, weil ein wildes Tier hinter dem Sofa lauert und ein Leopard im Geäst gerade zum Sprung ansetzt? Was für eine trügerische Idylle! Der Titel dieser merkwürdigenen Szene ist auch ziemlich verrückt: „Heißester Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnungen“. Beim zweiten Hinsehen er-

kennt man ein Limonadenglas und ein Thermometer, die auf dem Möbelstück liegen. Über das kleine Äffchen, das auf der Lehne des Sofas turnt, und eine bedrohliche Schlange staunt man schon kaum mehr. Ein wahrhaft surreales Szenario, angesiedelt irgendwo zwischen Traum und Alptraum, heiler Welt und drohendem Chaos. Typisch für die Arbeiten der Mainzer Künstlerin Henriette Sellin. Die Collagen, mit denen sie Schachteln, Dosen und Postkarten schmückt, haben alle eines gemeinsam: scheinbar harmlose altmodische Motive werden gebrochen durch absurde Kombinationen, die den trügerischen Frieden kippen lassen ins Komisch-Bedrohliche. Feine Jugendstil-Damen mit Vogelnestern auf dem Kopf, Eisbären, die mit Handtaschen bewaffnet auf einem Chaiselongue im Meer treiben, ein gefluteter großbürgerlicher Salon, in dem ganze Fischschwärme unterwegs sind und eine Rokoko-Dame, die interessiert verfolgt, wie ihr Gemahl gerade im Schlund eines Krokodils verschwindet ... solche morbiden Untiefen traut man der Künstlerin gar nicht zu.

 

Freundlich, zugewandt und völlig ohne doppelten Boden wirkt diese Henriette Sellin, die gemeinsam mit ihrem Mann ein Antiquariat am Mainzer Fischtorplatz betreibt. Und da sitzt die 55-jährige gelernte Buchhändlerin natürlich direkt an der Quelle, was die Motive ihrer Schachtelkunst anbelangt. Rings um sie herum wartet ein schier unerschöpflicher Fundus. Ihre Collagen entstehen nämlich aus alten Illustrationen, vom handkolorierten Kupferstich über Lithographien bis hin zu frühen Zeitschriftenabbildungen, Annoncen und alten Tapeten aus vergangenen Jahrhunderten.

 

Dass es ausgerechnet in der Gutenbergstadt Mainz nur noch ein einziges Antiquariat gibt, macht deutlich, welchen Niedergang die Buchkunst in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Alte Bücher sind nichts mehr wert. Kein Platz, kein Interesse und überhaupt: kann man doch alles im Netz nachlesen! Und so landet manch eine bibliophile Kostbarkeit auf dem Müll. Oder, wenn‘s gut läuft, bei Henriette Sellin. Vor 20 Jahren übernahm sie das traditionsreiche Antiquariat gegenüber dem Gutenberg-Museum von ihrem Vater und wenig später ging‘s los mit den ersten Schachteln und Dosen. Höchst filigran begann sie, Geschichten mit der Schere zu erzählen. Dafür schnitt sie Motive aus alten Büchern kunstvoll aus und komponierte sie neu auf runden oder eckigen Behältnissen.

 

Bald entdeckte Sellin die ideale Form für ihre Collagen: alte Apothekerdosen, die qualitativ nicht zu toppen sind und wie eine altmodische Litfaßsäule wirken, wenn die Schachtelkünstlerin ihr Werk vollendet hat. Eine zweifache Lackierung macht die Dosen dauerhaft schön. Jede einzelne ein handgefertigtes Unikat, das eine ganz eigene Geschichte erzählt, die sich in den phantasievollen Titeln spiegelt. Wobei sich bestimmte Motive auf den Arbeiten der Papier-Künstlerin immer wiederfinden lassen: Menschen und Möbel aus der Gründerzeit und dem Jugendstil, exotische Tiere wie Papageien, Fahrräder, Schiffe, Sonne, Mond, Früchte und ... immer wieder Fische. Da hat offenbar ein Onkel, der Meeresbiologe war, Spuren hinterlassen. Manch ein Mainzer wird sich beim Betrachten der Schachteln von Henriette Sellin erinnern an den Mainzer Schriftsteller und Künstler Ror Wolf. Angelehnt an das Werk von Max Ernst hatte er mit surrealistischen Collagen in seinen Büchern das Sittsame und Gelehrsame vergangener Epochen parodiert.

 

 

Auch bei Henriette Sellin kommt das Nostalgische, der Retro-Appeal der Schachteln nicht von ungefähr: seit etlichen Jahren schwärmt die Buchhändlerin für die 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts und tritt mit Chansons dieser Zeit auch auf Bühnen auf. Das Frivol-Freche jener Zeit, das Subversive hinter der scheinbar bravbürgerlichen Fassade, das hat‘s der Mainzerin angetan. Falsche Autoritäten entlarven, trügerische Idyllen kippen lassen, Fassaden zum Einsturz bringen – all das findet sich auch bei ihren Kistenmotiven, nicht geifernd und anklagend, sondern augenzwinkernd und humorvoll. 

 

Sellins Spiel mit dem Begriff der Wirklichkeit lässt durchaus auch mal die Umsetzung aktueller Themen wie Umweltverschmutzung oder die Corona-Pandemie zu. Da treibt dann schon mal der Unrat durchs Seerosen-Paradies (Titel: Du musst dein Leben ändern!) und Raffaels Renaissance-Engel trägt eine Maske (Titel: Auch das noch). Im Gespräch

gibt die Künstlerin dann schmunzelnd zu, dass durchaus auch manch eine persönliche Krise als Motiv künstlerisch be- und verarbeitet wurde. Sehr sympathisch!Überhaupt wirkt ihr Werk partiell wie ein Lehrbuch der Freudianischen Psychoanalyse – ein fantastisches Panoptikum des Unbewussten und des Traums.

 

Das scheint anzukommen: mittlerweile gibt es eine ganze Fan-Gemeinde, die die Schachteln und Dosen von Henriette Sellin sammelt. Spezielle Motivwünsche sind durchaus möglich, das belegt die Geschichte einer Kundin, die ihre eigene Urne von Henriette Sellin gestaltet haben wollte. Jetzt wartet die Urne im Regal auf ihren hoffentlich nicht so baldigen Einsatz ... schöner verpackt kann man wohl kaum ins Jenseits gelangen.